# taz.de -- Roman „Messer, Zungen“ über Südafrika: Heimat muss man erfinden
       
       > In ihrem Debütroman „Messer, Zungen“ schreibt Simoné Goldschmidt-Lechner
       > gegen kursierende Vorstellungen von Südafrika an.
       
 (IMG) Bild: Simoné Goldschmidt-Lechner
       
       Morgan Freeman kommt nicht gut weg. Der US-Schauspieler verkörperte
       [1][Nelson Mandela im Biopic „Invictus – Unbezwungen“], doch was weiß er
       schon von Südafrika? Während der Dreharbeiten vergleicht er den Kampf gegen
       die Apartheid mit der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, faselt von der
       gewalttätigen Schönheit des Landes, lässt sich in einem feinen Restaurant
       mit Blick über den Cape Point sein Steak schmecken.
       
       „Der Fleischsaft tropft von seiner Gabel auf den Teller aus feinstem
       Porzellan, nur für die edelsten Gäste, die ihre Eindrücke und falschen
       Geschichten weitertragen und alles andere unsichtbar zurücklassen.“ Es ist
       sicher keine authentische Szene, die Simoné Goldschmidt-Lechner hier
       schildert, doch eben darum geht es ihr. Sie kehrt die Perspektive um und
       thematisiert den anmaßenden Blick des Globalen Nordens, der ihr zufolge
       immer nur eine Bestätigung dessen suche, was er schon zu wissen meine.
       
       Bevor Goldschmidt-Lechner mit ihren Eltern nach Süddeutschland migrierte,
       wuchs sie in der Cape Coloured Community auf, jenem Teil der
       südafrikanischen Bevölkerung mit Vorfahren verschiedener Ethnien. In ihrem
       Debüt „Messer, Zungen“ schreibt sie gegen die [2][kursierenden
       Vorstellungen über Südafrika] an. Es ist ein poetisches Projekt mit einer
       ambitionierten politischen Agenda.
       
       Die Autorin zitiert Frantz Fanon: Der Mensch wolle stets von den Anderen
       anerkannt werden, sein Wert und sein Lebenssinn hänge davon ab; solange
       diese Anerkennung nicht erfolge, richte er sein ganzes Handeln auf die
       Anderen aus. „We play a losing game, Frantz“, notiert sie und erkennt doch
       einen Fluchtweg: im Schreiben der eigenen Geschichte.
       
       ## Befreiung und Heimat
       
       Hier dürfte die Befreiung beginnen und zugleich eine Heimat zu erkennen
       sein, wobei der Begriff weniger geografisch oder emotional zu verstehen ist
       denn literarisch. Heimat, das ist in diesem Buch schlicht etwas
       Ungeteiltes, auf dessen Bedeutung die Anderen keinen Zugriff haben, das man
       schon selbst erfinden muss, um daran glauben und darin leben zu können.
       
       Das Ziel des Buches ließe sich akademisch mit der Suche nach einem Narrativ
       beschreiben, findet seinen Ursprung jedoch im südafrikanischen Stadtleben,
       auf den Terrassen und Straßen, auf denen ein „geheimes Matriarchat“
       regiere: „Die Frauen verwalten alle Geschichten. Sie weben Legenden auf
       ihren Zungen und Lügen. Sie geben weiter und entscheiden, was vergessen
       wird.“
       
       In 48, teils nur wenige Seiten langen Kapiteln spürt Goldschmidt-Lechners
       Alter Ego, „Mädchen“ genannt, seiner Herkunft nach, spekuliert über
       Vorfahren, reist ihnen mit dem Finger über den Globus nach.
       
       ## Geschichten über Frauen, Siedler und Kämpfer
       
       Man liest von den Frauen aus dem Gebiet des heutigen Indonesien, die von
       zwei niederländischen Brüdern verschleppt werden, wohl in einem Schiff der
       Niederländischen Ostindien-Kompanie; von einem Schotten mit auffälligen
       Augen, der über den Atlantik fährt, um in einem Krieg für die Sirs und
       Lords zu kämpfen; von Siedlern, die plötzlich ihre schwarzen Frauen
       verlassen, als hätten sie die Sehnsucht nach fortwährender Landnahme von
       ihren Vorfahren geerbt.
       
       Je weiter die Familiengeschichte voranschreitet, umso plastischer werden
       die Erzählungen, eine Menge Onkel und Tanten tauchen auf, eine von ihnen
       wird, ähnlich wie [3][Rosa Parks, auf dem falschen Platz im Bus erwischt].
       „Das ist nicht erlaubt. Das ist eine geheime Dreistigkeit, die einer
       Geschichte von Vergewaltigung zu Vergewaltigung zu Vergewaltigung
       geschuldet entspringt, die Haut und Haare hell hat werden lassen.“
       
       So entsteht ein Bild der heutigen Cape Coloured Community, aus der
       „Mädchen“ stammt, einem Bevölkerungsteil, dessen Hautfarben auch von der
       Macht weißer Männer zeugt, die sich nahmen, was sie glaubten, das ihnen
       zustand.
       
       Die Gewalt von einst schreibt sich in einer haltlosen Gegenwart fort.
       Verwandte der Erzählerin erliegen den Drogen, werden überfallen oder sogar
       ermordet. „Für alle, die nie sprechen durften, und besonders für
       diejenigen, die es immer noch nicht können“, heißt es in der Widmung.
       Sprechen, das heißt hier: sich selbst entwerfen. Es heißt im Zweifel auch:
       die eigene Hölle wählen.
       
       ## Freiheit für den Straßenjungen
       
       Mädchens Mutter, eine Sozialarbeiterin, lässt eines Tages einen
       Straßenjungen absichtlich entwischen und sieht ihm zufrieden nach, wie er
       von der Stadt verschlungen wird. Wenigstens er werde „sich zu seinen
       eigenen Bedingungen zerstören“. Später verfolgt der Anblick seiner Leiche
       sie in ihren Träumen.
       
       Goldschmidt-Lechners Spurensuche stößt nicht auf goldene Zeiten, ihre
       Geschichtsschreibung läuft auf kein Happy End zu. Wenn sie die Toten und
       Verlorenen, die Junkies, die Mörder und ihre Opfer durch ihre Texte spuken
       lässt, dann nicht nur, um ihnen gerecht zu werden, um ihnen einen Ort zu
       geben, an dem sie Ruhe finden könnten, sondern auch um sie zu bannen, um
       jene Wunden zu schließen, von deren Grund gerade noch Schmerzensschreie
       lärmten.
       
       Man darf ihr Buch als Versuch verstehen, von dem, was geschehen ist, in
       einer Sprache zu erzählen, in der irgendwann einmal auch von Glück
       berichtet werden kann.
       
       8 Aug 2022
       
       ## LINKS
       
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 (DIR) Michael Wolf
       
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