# taz.de -- Antizionismus und Antisemitismus: „Wir müssen einen Konsens finden“
       
       > Die Deutschen reden viel über Israel, aber wenig von Antisemitismus.
       > Meron Mendel und Anna Staroselski im Gespräch über Grenzen der Kritik.
       
 (IMG) Bild: Meron Mendel und Anna Staroselski
       
       literataz: Frau Staroselski, in Berlin und anderen deutschen Städten wurde
       kürzlich mal wieder der „Kampf auf Leben oder Tod“ gegen das „zionistische
       Unterdrückungssystem“ gefordert und „Tod Israel! Tod den Juden!“ skandiert.
       Warum ist das immer noch möglich?
       
       Anna Staroselski: Man muss im Detail schauen, wer zu diesen Demonstrationen
       mit welcher Absicht aufruft. In Berlin handelte es sich zuletzt um eine
       Organisation, die als Vorfeldorganisation der Terrorvereinigung PFLP
       einzustufen ist und die auch in ihren öffentlichen Statements ganz klar das
       Existenzrecht Israels aberkennt und zu einem gewaltbereiten Widerstand
       aufruft. Sie verharmlosen und legitimieren Terror gegen Israel. Vor diesem
       Hintergrund ist es nicht verwunderlich, dass es zu Ausrufen wie „Tod den
       Juden und Tod Israels“ kommt. Warum das noch immer passiert, konnte man
       sehr gut an Ostersamstag in Berlin sehen, nämlich auch, weil die Polizei
       nicht eingeschritten ist, obwohl sogar Übersetzer vor Ort waren.
       Grundsätzlich finde ich, dass das palästinensische Samidoun-Netzwerk und
       die PFLP, die ja bereits auf der EU-Terrorliste steht, in Deutschland ein
       Betätigungsverbot erhalten müssen.
       
       Das träfe auch etwa auf das dem Iran nahestehende Islamische Zentrum in
       Hamburg und den Al-Kuds-Marsch, auf dem zur Zerstörung Israels aufgerufen
       wird, zu? 
       
       Meron Mendel: Generell stimme ich zu. Man muss im Detail schauen, wie die
       Organisationen strukturiert sind und welche Gefahr sie darstellen. Wenn
       juristisch nichts gegen ein Verbot spricht, bin ich klar dafür.
       
       Herr Mendel, dennoch hat man Ihnen vorgeworfen, den muslimischen
       Antisemitismus zu bagatellisieren. 
       
       Mendel: Gut, diejenigen, die das behaupten, müssen das auch beweisen.
       
       Staroselski: Ich habe mich schon gewundert, warum Sie sich zum Beispiel gar
       nicht geäußert haben zu den Geschehnissen von Ostersamstag, wo zu direkter
       Gewalt gegen Juden aufgerufen wurde.
       
       Mendel: Ja, das ist genau, was ich problematisch finde in der Debatte, dass
       man nicht gemessen wird an dem, was man sagt, sondern an dem, was man nicht
       gesagt hat. Es ist doch selbstverständlich, dass, wenn jemand zu Gewalt
       gegen Juden aufruft, ich das alles andere als gut finde. Es ist nicht meine
       Aufgabe, jedes Verbrechen, das in diesem Land passiert, zu verurteilen, und
       ich finde, wir haben genug andere Probleme, als mit der Lupe zu schauen,
       wer was nicht kommentiert hat. Wenn etwas ausreichend kommentiert und
       verurteilt wird, bin ich glücklich darüber, dass ich nicht in die Debatte
       intervenieren muss.
       
       Frau Staroselski schrieb „Antizionismus ist Antisemitismus“. Stimmen Sie
       dem zu? 
       
       Mendel: Ja und nein. Es ist doch immer die Frage, woher der Antizionismus
       kommt und in welchem Kontext. Die ultraorthodoxen Juden in Me’a Sche’arim
       werden sich als dezidierte Antizionisten definieren. Das macht sie
       natürlich nicht zu Antisemiten. Zionismus war nie ein Konsens unter Juden.
       Der erste zionistische Kongress sollte in München stattfinden, damals hat
       die Jüdische Gemeinde in München, die antizionistisch war, dagegen
       protestiert und der Kongress wurde nach Basel verlegt. Ich will damit
       sagen, wir müssen immer genau schauen, wie Antizionismus begründet wird. Es
       gibt Formen des Antizionismus, die auch antisemitisch sind. Genauso gibt es
       nicht-antisemitischen Antizionismus.
       
       Staroselski: Es ist aber ein Unterschied, ob Juden sich dazu verhalten oder
       nicht, und es ist auch ein Unterschied, ob das Juden in Israel tun oder in
       Deutschland. Hierzulande spielt der Antizionismus von Juden beziehungsweise
       genauer, der Satmar-Chassidim, nun wirklich keine Rolle. Darüber hinaus:
       Den Gedanken eines Nationalstaats abzulehnen, ist in jeder Gesellschaft
       möglich. Ich finde aber, wenn wir in Deutschland über Antizionismus
       sprechen, ist das eine andere Debatte, weil wir uns in einer Gesellschaft
       befinden, die antisemitische Kontinuitäten aufweist, und weil wir schon
       immer auch israelbezogenen Antisemitismus hatten. Auch bevor der Staat
       überhaupt existiert hat.
       
       Der dann Israel etwa auch völlig unabhängig von der jeweiligen
       Regierungspolitik ablehnt? 
       
       Staroselski: Ja, das sind Akteure, die Israel sogar unter Jitzhak Rabin
       abgelehnt haben. Wir wissen auch, dass in der DDR der Antizionismus zur
       Staatsdoktrin dazugehörte. Und in der BRD der 1970er Jahre hat sich in
       linksradikalen Gruppierungen wie der RAF etc. der Antisemitismus auf Israel
       übertragen. Es ist sehr wichtig, zu schauen, wie der Antizionismus in
       Deutschland formuliert wird, und da kann man die Debatte über
       Antisemitismus einfach nicht außer Acht lassen. Außerdem muss man über die
       Erfahrungen der Jüdinnen und Juden in Deutschland sprechen. Und wenn die
       Mehrheit der Jüdinnen und Juden in Deutschland eine andere Haltung zu
       Antizionismus hat und sagt, dass Antizionismus sehr wohl antisemitisch ist,
       dann muss man das ernst nehmen.
       
       Mendel: Das ist analytisch unscharf. Ob etwas in Israel oder in Deutschland
       formuliert wird, ist noch kein Argument. Wir müssen uns auf den Gegenstand
       beziehen. Wer was sagt, spielt zwar eine Rolle, aber wichtiger ist, was das
       Argument ist. Die Ablehnung des Prinzips Nationalstaat kann ich zwar in der
       Sache nicht gut finden, ist aber an sich noch nicht antisemitisch. Und zu
       Ihrer Aussage: wenn eine Vorstellung innerhalb der Mehrheit der jüdischen
       Community verbreitet ist, würde sie zwangsläufig wahr sein. Das ist kein
       Argument. Wie soll man diese Mehrheit überhaupt rausfinden?
       
       Aber dass der „Antizionismus ein Vehikel geworden ist, um antisemitischen
       Ressentiments in einer sozial akzeptierten Form Ausdruck zu verleihen“,
       steht für Sie außer Zweifel, Herr Mendel, so steht es ja auch in Ihrem
       Buch. 
       
       Mendel: Ja. Das können wir nur an konkreten Äußerungen belegen und schauen,
       wer den Antizionismus als Vorwand nutzt, um Antisemitismus zu legitimieren.
       Das muss dann auch ganz klar benannt werden, da bin ich ganz auf der Seite
       von Frau Staroselski. Aber wenn Menschen jede Form des Nationalstaats
       ablehnen oder aus theologischen Gründen einen Nationalstaat ablehnen oder
       sich eine friedlichere Zukunft für den Staat Israel wünschen, indem sich
       der Staat nicht als jüdisch, sondern nur als demokratisch definiert, tun
       wir uns keinen Gefallen, diese durchaus legitimen Positionen so pauschal
       mit dem Antisemitismusvorwurf zu brandmarken.
       
       Staroselski: Aber Antizionismus bedeutet die Ablehnung des Zionismus und
       das bezieht sich auf das Selbstbestimmungsrecht von Juden und letztlich auf
       Israels Existenzrecht.
       
       Mendel: Warum? Das bezieht sich auf Israel als zionistischen Staat, aber
       nicht auf das Existenzrecht. Israel kann auch rein theoretisch als nicht
       zionistischer Staat mit oder ohne jüdischer Mehrheit existieren.
       
       Staroselski: Zionismus bedeutete in seinem Ursprung, einen jüdischen Staat
       zu errichten. Wenn man ablehnt, dass ein jüdischer Staat existieren soll,
       ist das für mich antisemitisch.
       
       Mendel: Was meinen Sie mit ablehnen?
       
       Staroselski: Antizionismus bedeutet, dass ein jüdischer Staat in seiner
       Form nicht existieren darf. Das, finde ich, ist antisemitisch, und da ist
       es aus meiner Sicht erst mal egal, wer diesen Gedanken formuliert. Es gibt
       ja auch Arbeitsdefinitionen, beispielsweise von der International Holocaust
       Remembrance Alliance, die eine definitorische Übersetzung der Erfahrungen
       von Jüdinnen und Juden ist. Das Besondere an dieser Definition ist, dass
       sie eine Reihe von Beispielen gibt, die sich insbesondere auf
       israelbezogenen Antisemitismus beziehen. Das macht sie so besonders
       wichtig, weil gerade bei israelbezogenem Antisemitismus sehr häufig nicht
       klar ist, ob eine Aussage antisemitisch ist oder Entscheidungen der
       israelischen Regierung kritisiert werden. Aber wenn Israel dämonisiert oder
       das Existenzrecht Israels abgelehnt wird, ist das auch laut dieser
       Arbeitsdefinition antisemitisch.
       
       Mendel: Ich definiere mich als Zionist. Nichtdestotrotz müssen wir das
       Ganze analytisch scharf stellen. Einige, die antizionistische Positionen
       vertreten, vertreten auch israelbezogenen Antisemitismus. Aber es gibt eben
       auch in der jüdischen Diaspora viele Bewegungen, auch historische, die
       antizionistisch sind. Es ist falsch, diese ganze Vielfalt an
       antizionistischen Positionen nachträglich und in der Gegenwart als
       antisemitisch darzustellen. Das ist paradox. Ein Großteil der Juden, die
       außerhalb von Israel leben, ist antizionistisch, und auch ein
       beträchtlicher Anteil der Juden, die in Israel leben, ist antizionistisch.
       Sind die alle Antisemiten?
       
       Aber es gibt eine Schnittmenge zwischen Antizionismus und israelbezogenem
       Antisemitismus. 
       
       Mendel: Ja. Da geht mit der Ablehnung der jüdischen Komponente des Staates
       Israel der Wunsch einher, die Juden loszuwerden aus der Region. Das ist
       antisemitisch. Aber es gibt auch Positionen, die ich zwar nicht teile, die
       aber eine andere, vielleicht utopische Vorstellung haben von der
       Organisation des gemeinsamen Staatswesens nicht nach Religion, sondern nach
       Staatsbürgerschaft.
       
       Staroselski: Wir reden ja über heute und nicht über einen utopischen
       Moment. Und wir reden darüber, welche Gefahr Antizionismus für Jüdinnen und
       Juden in der Diaspora bedeuten kann. Es geht darum, welche Gefahr die
       antizionistische Propaganda mit sich bringt. Ich habe nicht gesagt, dass
       alle Juden Zionisten wären, und der Zionismus ist auch keine monolithische
       Ideologie. Aber es geht doch darum, dass es heute de facto einen jüdischen
       Staat Israel gibt und dass es Personen gibt, die sagen, dass dieses Land in
       seiner Form nicht existieren darf und was daraus folgt.
       
       Mendel: Wenn Leute sagen, Israel darf nicht als jüdischer Staat existieren,
       ist das sicherlich antisemitisch, da würde ich zustimmen. Aber wenn es
       heißt, Israel soll nicht als jüdischer Staat existieren, ist das vielleicht
       nicht richtig, aber keinesfalls antisemitisch.
       
       Aber wie geht man mit einem antisemitischen Antizionismus um? Wir führen
       bei all den Skandalen von Mbembe bis documenta immer wieder dieselbe
       Diskussion. 
       
       Mendel: Genau deswegen brauchen wir Definitionsschärfe. Einige sehen
       überall Antisemitismus und andere sind blind dafür oder leugnen ihn per se.
       Wir müssen Werkzeuge erarbeiten, um den Antisemitismus – aber auch falsche
       Antisemitismusvorwürfe – zu entlarven, und ich denke, an dem Punkt sind wir
       jetzt: Wir sind uns einig, dass es Formen der Israelkritik gibt, die klar
       antisemitisch sind.
       
       Aber das Problem ist häufig, dass es nicht um Inhalte, sondern um
       Sprecherpositionen geht. Wenn etwa auf der documenta in einem Kunstwerk
       Gaza mit Guernica gleichgesetzt wird, geht es in der Diskussion nicht
       darum, aus welchen Gründen das eine falsche Parallelisierung ist, sondern
       es geht um die Herkunft der Künstler:innen. 
       
       Staroselski: Ja. Für mich ist außerdem als in Deutschland lebende Jüdin das
       Problem mit Antisemitismus kein analytisches, sondern ein
       gesellschaftliches Problem, was auf dem Rücken von Jüdinnen und Juden
       ausgetragen wird. Wenn Jüdinnen und Juden sich in Deutschland nicht sicher
       fühlen, wenn sie nicht sicher auf die Straße gehen können, wenn sie Sorge
       haben, als Jüdinnen und Juden erkannt zu werden, ihre jüdischen Symbole
       verstecken müssen, dann geht es nicht um analytische Diskussion, sondern
       darum, dass der Rechtsstaat Jüdinnen und Juden schützen muss, und es
       bedeutet, dass man sich auseinandersetzen muss mit Antisemitismus und mit
       Kontinuitäten des Antisemitismus in der Gesellschaft.
       
       Das heißt, die Beschäftigung mit Antisemitismus findet eigentlich gar nicht
       statt? Sie haben einmal geschrieben: „Der Vorwurf des Antisemitismus wiegt
       schwerer als der Antisemitismus selbst“. 
       
       Staroselski: Man muss die Sprecherposition von Jüdinnen und Juden ernst
       nehmen und ich finde, dass [1][das Beispiel documenta], das Sie angebracht
       haben, ein sehr passendes dazu ist, weil es bereits vor der Eröffnung der
       documenta jüdische Stimmen gab, die gewarnt haben, dass diese Ausstellung
       Antisemitismus öffentlich zur Schau stelle. Darauf wurde kaum bis gar nicht
       reagiert. Die documenta wurde ausgesessen, es gab dann eine
       Untersuchungskommission und Debatten in Feuilletons über Ausstellungsstücke
       und am Ende ist nichts passiert. Stattdessen ist man genau in die Situation
       geraten, zu debattieren, ob jetzt die Künstler, die diese Kunstwerke
       ausgestellt haben, Antisemiten sind oder nicht. Mir geht es nicht um
       pauschale Antisemitismusstempel, sondern um die Auseinandersetzung mit
       antisemitischen Verschwörungserzählungen, mit reproduzierten
       antisemitischen Inhalten, weil sie eine konkrete Auswirkung auf das
       Sicherheitsgefühl von Jüdinnen und Juden in Deutschland haben.
       
       Mir scheint, der Zeitgeist ist hier ein anderer. 
       
       Staroselski: Es gibt Umfragen, die zeigen, dass heute etwa 70 Prozent der
       Deutschen glauben, dass ihre Vorfahren keine Täter waren. Im letzten Herbst
       ist eine Studie herausgekommen, die besagt, dass knapp über die Hälfte der
       Deutschen eine Schlussstrichdebatte fordert. Wir hatten bis in die 1980er
       Jahre personelle Kontinuitäten von ehemaligen NSDAP-Mitgliedern in
       Verantwortungspositionen und wir sind noch immer nicht an einem Punkt
       angelangt, wo man sagen kann, dass Antisemitismus keine reale Existenz mehr
       in der deutschen Gesellschaft hat. Auch vor diesem Hintergrund müssen die
       Debatten geführt werden, und das ist nicht ausschließlich eine
       akademisch-analytische Debatte von Wissenschaftlern im Elfenbeinturm,
       sondern das ist eine Debatte, die in erster Linie Jüdinnen und Juden
       betrifft, deren Stimme gehört werden muss.
       
       Mendel: Natürlich. Leider ist es so, dass Juden die Leidtragenden sind,
       aber das gibt niemandem die Berechtigung, den Antisemitismusvorwurf
       leichtfertig zu benutzen. Wir müssen uns mit jedem Vorwurf
       auseinandersetzen. Was sich antisemitisch anfühlt, muss nicht auch
       antisemitisch sein.
       
       Staroselski: Würden Sie das beim Thema Rassismus auch so sagen?
       
       Mendel: Absolut. Wir können nicht die Debatte auslagern und sagen, nur die
       Schwarzen können jetzt entscheiden, was Rassismus ist und nur die Juden
       können entscheiden, was Antisemitismus ist. Aus dem einfachen Grund: Es
       gibt nicht nur eine Meinung von Juden und es gibt nicht nur eine Meinung
       von Schwarzen. Verletzte Gefühle sind keine Substanz, mit der wir
       argumentieren können. Es fehlt uns auch nicht an Sonntagsreden und
       Bekenntnissen gegen Antisemitismus, sondern wir müssen einen Umgang mit den
       wiederkehrenden Debatten finden, sie differenziert führen und schauen, wie
       wir wirklich den versteckten oder codierten Antisemitismus analytisch
       decodieren. Gefühle sind noch kein Beweis.
       
       Staroselski: Man muss erst mal überhaupt ernst nehmen, wenn Jüdinnen und
       Juden sagen, hier findet Antisemitismus statt, und das nicht als
       Antisemitismusvorwurf in Anführungszeichen abtun oder den
       Antisemitismusvorwurf an sich skandalisieren.
       
       Mendel: Warum in Anführungszeichen? Das ist aber doch zunächst einmal
       faktisch ein Vorwurf.
       
       Staroselski: Das haben wir bei so vielen Debatten gesehen. Es geht dann nur
       noch um die Person, die diesen Antisemitismusvorwurf erhalten hat und man
       setzt sich nicht mit dem Inhalt auseinander oder damit, was tatsächlich
       passiert ist.
       
       Mendel: Ich habe eine schlechte Nachricht: Jede Debatte funktioniert so,
       dass es erst einmal einen Vorwurf gibt. Und dieser Vorwurf muss überprüft
       werden. Klar müssen die Juden ernst genommen werden, so wie die Katholiken
       oder Evangelen, Frauen oder Männer auch. So ist das in der Demokratie.
       Jeder muss ernst genommen werden. Darüber gibt es keinen Streit. Aber im
       Endeffekt ist die Beweislast an denjenigen, die den Vorwurf erheben.
       
       Roger Waters hat neulich im [2][Gespräch mit Ihnen, Meron Mendel, im
       Spiegel ] gesagt, „Sie kennen das Wort, das wir nie benutzen durften, aber
       jetzt benutzen dürfen, weil es ständig benutzt wird, und das ist:
       Apartheid.“ Mir scheint, er hat da genau die perfide Grenzverschiebung
       benannt, die auch in postkolonialen Kreisen oft anzutreffen ist, das heißt,
       so oft in Bezug auf Israel die Wörter Apartheid und Genozid zu wiederholen,
       bis alle dran glauben, egal wie falsch die Aussage ist.
       
       Mendel: Der Apartheidvergleich ist falsch, aber ich würde nicht sagen, dass
       jeder, der den Vergleich anstellt, antisemitisch ist. Man muss diese
       Diskussion führen und Argumente und Belege dafür bringen, warum dieser
       Vergleich zwischen Israels Besatzungspolitik und der Apartheidpolitik nicht
       zutreffend ist. Das ist der einzig mögliche Umgang mit diesem Vorwurf. Wir
       dürfen uns dieser Diskussionen nicht entziehen, indem die Gegenposition
       pauschal als antisemitisch dargestellt wird.
       
       Staroselski: Der Apartheidvorwurf gegen Israel ist falsch und verharmlost
       die Realität der Menschen in Südafrika bis in die 1990er. Was die
       postkolonialen Grenzverschiebungen in Bezug auf die Genozidfrage angeht,
       sind wir uns vielleicht einig: Man muss an der [3][Präzedenzlosigkeit der
       Shoah] festhalten. Die Behauptung oder Verschwörungserzählung ist ja, dass
       es jüdische Eliten gäbe, die Deutschland eine Erinnerungskultur
       aufoktroyiert hätten – mit den Juden als einer besonderen Opfergruppe. Die
       Absicht ist nun, die Shoah als einen Genozid unter vielen darzustellen. Was
       aber faktisch nicht richtig ist, schon allein wegen der sogenannten
       „Endlösung“ – es sollten ausnahmslos alle Juden und Jüdinnen aufgespürt und
       getötet werden. Die Nichtanerkennung des Präzedenzlosen führt auch zu einer
       Art Entlastung. Wenn man sagt, Jüdinnen und Juden sind keine besondere
       Opfergruppe, dann braucht es auch keine besondere Erinnerungskultur in
       Deutschland. Deutschland wäre dann nur noch eine Nation von vielen
       imperialistischen zur Zeit des Kolonialismus und Imperialismus, und man
       bräuchte auch keine besondere Verantwortung gegenüber Jüdinnen und Juden
       und entsprechend auch nicht gegenüber Israel.
       
       Mendel: Die Präzedenzlosigkeit sehe ich genauso, nichtsdestotrotz sehe ich
       nicht, was das Problem ist, darüber zu diskutieren. Wir müssen einfach die
       besseren Argumente auf den Tisch legen, damit wir in der Wissenschaft wie
       auch in der breiten Gesellschaft einen Konsens finden.
       
       Staroselski: Man kann diese Debatten führen und das tun wir tagtäglich,
       übrigens seit Jahren. Ich finde nur, diese Debatte wie auch die documenta
       haben gezeigt, dass, wenn wir uns in einem Klima von Relativierung und
       Schlussstrichforderungen befinden, jüdische Perspektiven, die klar den
       Antisemitismus benennen, abgewehrt werden. Wenn man diese Positionen auch
       legitimiert, wenn man auch mit Roger Waters, der ein Antisemit ist, spricht
       und seine Position zulässt, dann kommt man eben zwangsläufig dazu, dass
       Antisemitismus verharmlost oder legitimiert wird. Und die Konsequenz dessen
       ist, dass man dann vielleicht nicht solche Demonstrationen wie die, über
       die wir eingangs sprachen, verhindert, sondern einen gesellschaftlichen
       Rahmen schafft, in dem solche Demonstrationen zunehmen können.
       
       Mendel: Sie sagen immer, jüdische Perspektiven müssen ernst genommen
       werden. Was sind jüdische Positionen? Ich finde es problematisch, bestimmte
       Positionen als jüdische zu deklarieren und andere, die vielleicht für Sie
       nicht bequem sind, als nichtjüdische.
       
       Staroselski: Ich beziehe mich hier auf demokratisch legitimierte
       Institutionen, die einen repräsentativen Anspruch haben, die jüdischen
       Gemeinden und jüdische Menschen in Deutschland zu vertreten, also zum
       Beispiel der Zentralrat, die Zentralwohlfahrtsstelle etc. Das sind
       Institutionen, die die Mehrheit der jüdischen Menschen in Deutschland
       repräsentieren.
       
       Mendel: Die Hälfte der Juden in Deutschland ist nicht organisiert in den
       Gemeinden.
       
       Staroselski: Viele Jüdinnen und Juden, die von Marginalisierungserfahrungen
       betroffen sind, haben kein Sprachrohr, und der Zentralrat ist die
       politische Interessenvertretung dieser Menschen. Ich frage mich, wenn es
       nicht das organisierte Judentum oder jüdisches Leben in Deutschland gäbe,
       wie diese Personen überhaupt berücksichtigt werden würden.
       
       Mendel: Ich habe gar nichts gegen den Zentralrat, aber die Frage war doch,
       wie man bestimmte Kunstwerke oder eine Demonstration bewertet. Und da gibt
       es eben nicht eine jüdische Perspektive. Wir haben keinen Hohepriester, der
       uns allen die Linie vorgibt.
       
       Weder eine Anti-BDS-Resolution noch ein Antisemitismusbeauftragter oder
       eine [4][IHRA-Antisemitismus-Definiton] haben bisher konkret viel
       weitergeholfen in den Debatten. Was tun? 
       
       Mendel: Da würde ich zustimmen. Ich glaube, dass mit dem
       Bundestagsbeschluss oder einem Antisemitismusbeauftragten kein einziger
       antisemitischer Vorfall verhindert wurde. Da helfen auch keine
       Sonntagsreden. Wir müssen Antisemitismus bekämpfen, wo er existiert, und
       Verbündete finden. Dass Menschen sich gegen Antisemitismus auch in ihrem
       Alltag einsetzen, wird nicht per Dekret passieren.
       
       Staroselski: Aber wie wollen Sie Antisemitismus bekämpfen?
       
       Mendel: Über Bildungsarbeit, das, was ich in der [5][Bildungsstätte Anne
       Frank] auch mache.
       
       Staroselski: Sicher spielt die Bildungsarbeit bei der Prävention gegen
       Antisemitismus eine wichtige Rolle. Aber in einer solidarischen und
       demokratischen Gesellschaft braucht es auch Formen der Intervention und –
       falls nötig – auch Formen der Repression, die Antisemiten Einhalt gebietet.
       Dazu gehört eine wachsame Zivilgesellschaft, die bei antisemitischen
       Vorfällen einschreitet, ebenso wie ein funktionierender Rechtsstaat, der
       antisemitisch motivierte Straftaten verfolgt und ahndet.
       
       26 Apr 2023
       
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       ## ARTIKEL ZUM THEMA
       
 (DIR) 30 Jahre Osloer Abkommen: Kein Partner, nirgends
       
       30 Jahre nach dem Handschlag von Rabin und Arafat scheint ein Frieden im
       Nahen Osten ferner denn je. Schuld daran sind beide Seiten
       
 (DIR) Studie zu Antisemitismus in Hamburg: Verdeckte Angriffe
       
       Eine Studie soll klären, wie weit Judenhass in Hamburg verbreitet ist.
       Besonderes Augenmerk wird auf Vorfällen unter der Strafbarkeitsgrenze
       liegen.
       
 (DIR) Meron Mendel liest in Hamburg: Reden über „Über Israel reden“
       
       Wenn Deutsche über Israel reden, tun sie das nicht immer kenntnisreich: Der
       Historiker und Pädagoge Meron Mendel ist zu Gast in Hamburg.
       
 (DIR) Deutscher Sachbuchpreis 2023: Das Große im Kleinen
       
       Der Gewinner des Deutschen Sachbuchpreises 2023 heißt Ewald Frie. Gewürdigt
       wird damit sein Buch über den "stillen Abschied vom bäuerlichen Leben".
       
 (DIR) Ermittlungen gegen Roger Waters: „Böswillige Angriffe“ beklagt
       
       Der Musiker wirft seinen Kritikern vor, dass sie ihn „zum Schweigen
       bringen“ wollten. Die Polizei ermittelt nach einem Auftritt in Berlin wegen
       Volksverhetzung.
       
 (DIR) Elon, Roger und die anderen: A great week for Antisemitismus
       
       Das Prinzip Antisemitismus funktioniert – immer anders, aber zuverlässig.
       Das haben diese Woche Elon Musk und Roger Waters vorgeturnt.
       
 (DIR) Antisemitismus im Kulturbetrieb: Kunst und Judenhass
       
       Jüdinnen und Juden im deutschen Kulturbetrieb beklagen die Wiederkehr
       antisemitischer Stereotype. Das war nun Thema einer Tagung.
       
 (DIR) Zwischen Israel und Terrorgruppen in Gaza: Waffenstillstand vereinbart
       
       Nach dem Tod eines prominenten palästinensischen Militanten flogen Raketen
       aus Gaza, Israel reagierte mit Luftangriffen. Nun herrscht wieder Ruhe.
       
 (DIR) Justizreform in Israel: Tausende Befürworter auf der Straße
       
       In Jerusalem haben Anhänger der israelischen Regierung für die
       Gesetzesänderung demonstriert. Ministerpräsident Netanjahu hatte die
       umstrittene Reform aufgeschoben.
       
 (DIR) Das N*-Wort als deutsches Normal: Rassismus aus der Kiste
       
       Nach einer Attacke auf ihn scheitert Prince Ofori vor Gericht. Die
       Richterin verhandelt nur einen Kistenwurf, nicht die rassistische
       Beleidigung.
       
 (DIR) 75 Jahre Israel: Die zwei Stützen Israels
       
       Israel feiert seinen 75. Geburtstag. Der Konflikt, der das Land heute
       spaltet, war schon bei seiner Gründung angelegt.
       
 (DIR) Politologe über Israel heute: „Die Nakba ist lebendige Gegenwart“
       
       75 Jahre nach Gründung Israels befinde sich das Gebiet unter jüdischer
       Vorherrschaft, sagt Professor Bashir. Es brauche Dekolonisierung und
       Versöhnung.
       
 (DIR) Historikerstreit 2.0: Konjunkturen der Erinnerung
       
       Ein Sammelband beleuchtet die blinden Flecken der postkolonialen Theorie.
       Er zeigt, warum die Präzedenzlosigkeit der Shoah gut begründet ist.
       
 (DIR) Debatte um die Gedenkkultur: Diffuse Erinnerung
       
       Postkoloniale Anliegen zu thematisieren ist wichtig. Doch was bringt es,
       dafür die Beispiellosigkeit der Shoah in Frage zu stellen?
       
 (DIR) Postkoloniale Theoretiker: Leerstelle Antisemitismus
       
       Die Verdienste postkolonialer Forschung sind groß. Doch die Causa Achille
       Mbembe zeigt, dass sie das Wesen des Antisemitismus verkennt.