# taz.de -- Reform des EU-Asylsystems: Die Grünen und ihre Grenzen
       
       > Der Umgang mit Geflüchteten in der EU und die Neuausrichtung der
       > Migrationspolitik drohen zur Zerreißprobe zu werden. Die Grünen stecken
       > mittendrin.
       
 (IMG) Bild: Warten in Bialowieza: Geflüchtete nahe der polnisch-belarussischen Grenze
       
       BERLIN taz | In Sachen Asyl finden sich im Programm der Grünen sehr
       eindeutige Passagen: „Das Asylverfahren findet im aufnehmenden
       Mitgliedstaat statt. Vorgezogene Asylverfahrensprüfungen an den
       Außengrenzen lehnen wir ab“, heißt es dort. Und auch in ihrem Programm zur
       EU-Wahl 2019 steht: „Abgesperrte Massenlager in der EU, Transitzonen (…)
       lehnen wir ebenso ab wie Abschottungsabkommen, mit denen Menschen in
       Drittstaaten zurückgeschickt werden.“
       
       Doch viel spricht gerade dafür, dass die Partei sich daran nicht mehr
       gebunden fühlt. Denn das, was ihr eigenes Programm so klar ablehnt, steht
       am kommenden Donnerstag auf der Tagesordnung der EU-Innenminister. Und wie
       es derzeit aussieht, zieht die Ampelkoalition mit.
       
       Die EU-Minister:innen wollen sich auf eine gemeinsame Linie für die seit
       Jahren ausstehende [1][Reform der Asylpolitik] einigen. Die Kommission
       drängt auf die dazu nötigen Verhandlungen mit dem Parlament. Sie will das
       Thema unbedingt bis zum kommenden Februar, vor der nächsten EU-Wahl,
       abgeräumt haben. Und angesichts der hohen Asylzahlen machen auch viele der
       EU-Innenminister:innen Druck.
       
       Im Kern liegen zwei Vorschläge auf dem Tisch. Der erste:
       [2][Asyl-Schnellverfahren in de facto Internierungslagern], direkt an den
       Außengrenzen. Die Idee stammt von Deutschlands Ex-CSU-Innenminister Horst
       Seehofer. Die EU-Kommission griff sie auf und legte 2020 ein Konzept vor.
       Doch seitdem stocken die Verhandlungen dazu. Anfang Mai sagte
       Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) dann, die Ampel habe sich darauf
       geeinigt, dass „an den Grenzen schon Asylverfahren stattfinden können“.
       
       ## Was ist aus der Ablehnung der Grünen geworden?
       
       Dabei waren die Grünen, als Seehofer 2018 seine Pläne für die Reform des
       EU-Asylsystems präsentierte, entsetzt: Seehofer lege die „Axt an Europa und
       unseren Rechtsstaat an“, schrieb damals Annalena Baerbock in der FAZ. Statt
       der „völlig überfüllten, geschlossenen Lager, wie derzeit auf Lesbos, wo
       Menschen in leichten Zelten hausen und Kinder im Dreck spielen“ müssten
       Flüchtlinge „nach einem ersten Screening fair und schnell auch auf die
       anderen europäischen Länder verteilt werden, wo dann die Asylverfahren
       laufen.“ Die bayrische Grünen-Chefin Katharina Schulze nannte Seehofers
       Migrationspolitik „verantwortungslos, schädlich, und sie funktioniert auch
       nicht.“ Claudia Roth fand, der Vorschlag sei „rechtsstaatlich nicht
       hinnehmbar“.
       
       Ein faires und gründliches Asylverfahren sei „kein Almosen, sondern
       rechtsstaatlicher Anspruch und Grundpfeiler des internationalen
       Flüchtlingsrechts“. Eine individuelle Prüfung, wie sie das Flüchtlingsrecht
       explizit voraussetzt, sei „an den EU-Außengrenzen, wo die Mitgliedstaaten
       ohnehin komplett überfordert sind, nicht vorstellbar“, so Roth. Damals. Was
       ist aus dieser Ablehnung geworden? Der heutige Grünen-Vorsitzende Omid
       Nouripour sagte Anfang Mai im ZDF, es gebe keine Zustimmung der Grünen „um
       jeden Preis“. Er nannte „verbindliche Verteilmechanismen“ als
       Voraussetzung. Später bekräftige Nouripour dies.
       
       An der [3][menschenrechtlichen Fragwürdigkeit der Schnellverfahren] und
       daran, dass sie „Massenhaftlager“ bedeuten, würde ein Verteilmechanismus
       nichts ändern. Vor allem aber: Einen solchen Mechanismus wird es nicht
       geben. Die Kommission hat ihn nie geplant, weil klar ist, dass Länder wie
       Polen oder Ungarn nicht zustimmen würden. „Eine verpflichtende Umsiedlung
       war, ist und wird nicht Teil des Vorschlags sein“, sagt Maria Malmer
       Stenergard, die schwedische Migrationsministerin. Ihr Land hat derzeit die
       Ratspräsidentschaft inne und koordiniert die laufende Abstimmung im Rat.
       „Verpflichtende Solidarität ist eine andere Sache“, twitterte Stenergard.
       Länder, die keine Asylbewerber aufnehmen wollen, sollen mit Geld oder dem
       „Aufbau von Kapazitäten“ Solidarität zeigen.
       
       Dieser „Solidaritätsmechanismus“ ist das zweite Element des
       Kommissionsvorschlags. Das Prinzip: Wer den überlasteten
       Außengrenzen-Staaten keine Flüchtlinge abnimmt, soll stattdessen zahlen
       müssen. Wie viel das nach den Vorstellungen der Kommission genau sein soll
       – das sickerte vor Kurzem erstmals durch: 22.000 Euro pro nicht
       aufgenommenem Flüchtling. Das Geld kann auch für Grenzschutz-Ausgaben
       verwendet werden – sogar mit Zahlungen für die libysche Küstenwache wäre
       die Verpflichtung erfüllt. Dabei gab es für die Außengrenzen-Staaten in der
       Vergangenheit genug Geld. Griechenland etwa bekam für die
       Flüchtlingsversorgung mehr als jeder andere Staat der Welt.
       
       ## Mittragen, was dem eigenen Programm widerspricht
       
       Nouripours Bedingung wird also nicht erfüllt. Was das für die Haltung der
       Partei zu der Frage bedeutet, wüsste man gern. Doch seit Wochen weigert
       Nouripour sich, auf taz-Anfragen zu antworten. Erst sagt seine Sprecherin,
       es werde „leider zeitlich nicht klappen“, in der Woche drauf heißt es, man
       habe „erstmal keine Kommunikation zu dem Thema geplant“. Am Donnerstag
       schreibt die Partei, man werde die Anfrage „leider nicht kommentieren“.
       Warum? Keine Reaktion mehr.
       
       Der wahrscheinlichste Grund ist: Die Grünen werden bei dem Thema mittragen,
       was ihrem eigenen Programm widerspricht. Die wohlwollendste Deutung: Mit
       dem Kampf um Habecks Wärmewende sind die Kräfte der Partei offenbar
       aufgezehrt. Eine andere Front mutet sie sich nicht zu. In der Bundestags-
       und EU-Fraktion, an der Basis, bei der Grünen Jugend und bei der
       Heinrich-Böll-Stiftung gibt es daran viel Kritik. Die Parteispitze ficht
       das offensichtlich nicht an. Von Grünen-Abgeordneten heißt es, man hoffe,
       die Sache bleibe im Ministerrat hängen und scheitere am Widerstand anderer
       Staaten.
       
       Doch das ist keineswegs sicher. Zwar sind Spanien und Griechenland wegen
       Wahlen oder laufender Regierungsbildung gerade etwas blockiert. Polen,
       Ungarn und Tschechien lehnen jede Form der [4][verpflichtenden
       Flüchtlingsaufnahme] strikt ab. Und die ersatzweise verpflichtende Zahlung
       auch. Der Ständige Vertreter Polens bei der EU, Andrzej Sadoś, nennt diese
       eine „Strafe“.
       
       Die Kommission aber will unbedingt einen Erfolg vor der Wahl – und dazu
       braucht der Rat das Verhandlungsmandat. Eine Vertreterin der schwedischen
       EU-Präsidentschaft bestätigte der taz, dass noch im Juni ein Kompromiss
       erzielt werden soll. In Brüssel ist zu hören, dass dieser möglicherweise
       mit qualifizierter Mehrheit, also auch gegen die Stimmen von Polen und
       Ungarn, beschlossen werden könnte.
       
       ## Massive Asylrechtsverschärfungen geplant
       
       Noch aber wird im Ausschuss der ständigen Vertreter am Kompromissvorschlag
       gearbeitet. Deutschland hatte darauf gedrängt, Familien mit Kindern unter
       18 Jahren von den Asyl-Schnellverfahren auszunehmen. Die Kommission hatte
       eine Altersgrenze von 12 Jahren vorgeschlagen. In der Kompromissversion,
       die der taz vorliegt, heißt es, dass Familien mit Kindern unter 12 nicht
       automatisch von den Asyl-Schnellverfahren ausgenommen werden.
       
       Manche EU-Staaten glauben, dass Flüchtlinge sich sonst unterwegs
       unbegleitete Minderjährige suchen, um der Internierung zu entgehen. Auch
       unbegleitete Minderjährige sollen das Grenzverfahren durchlaufen, wenn sie
       als „Gefahr für die nationale Sicherheit oder öffentliche Ordnung“
       eingestuft werden. Der Kompromissvorschlag soll noch vor dem
       Minister:innentreffen in einer Probeabstimmung getestet werden.
       
       „Der Innenministerrat ist bereit, [5][massive Asylrechts-Verschärfungen]
       auf EU-Ebene zu beschließen, die de facto das Recht auf Asyl abschaffen“,
       sagt die Linken-Abgeordnete Cornelia Ernst. „Damit ist der
       EU-Migrationspakt, der eigentlich ein solidarischer Neustart der
       europäischen Migrationspolitik sein sollte, ein Geschenk an Orban und Co,
       die seit Jahren massiv Stimmung gegen Schutzsuchende machen.“
       
       Die Kommission schafft derweil Fakten. Schon seit Jahren wird eine Vorform
       der Grenzverfahren in Griechenland getestet. Auch mit Rumänien und
       Bulgarien wurden Vereinbarungen für Pilotprojekte für „beschleunigte
       Asylverfahren, effektive Abschiebungen und verstärkte Kooperation mit
       Nachbarstaaten“ getroffen.
       
       Mitarbeit: Elina Pahnke, Tim Kemmerling
       
       3 Jun 2023
       
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