# taz.de -- Verdrängte Flugscham: Das Blaue vom Himmel
       
       > Die Deutschen machen mehr Flugreisen als je zuvor. Um die Flugscham
       > abzumildern, erzählen Fluggesellschaften Märchen vom klimafreundlichen
       > Fliegen.
       
 (IMG) Bild: Auch Ökokerosin erzeugt Kondensstreifen, was die Erde zusätzlich erwärmt
       
       Diesen Sommer wird geflogen, als gäbe es kein Morgen: 134.386 Flieger waren
       am 6. Juli in der Luft, so viele wie noch nie. Dabei dürften die meisten
       Passagiere wissen, dass sie damit das Klima ruinieren. Auch
       „[1][Flugscham]“ ist kein Fremdwort mehr, sie wird aber verdrängt.
       
       Die Airlines [2][helfen bei dieser kollektiven Amnesie kräftig nach], indem
       sie versprechen, spätestens 2050 klimaneutral zu sein. Leider bleibt
       nebulös, wie dies gelingen soll. So kündigt die Lufthansa an, dass sie bis
       2030 „rund 200 spritsparende“ Flugzeuge anschaffen will, die „im Vergleich
       zu ihren jeweiligen Vorgängermodellen bis zu 30 Prozent weniger Treibstoff“
       verbrauchen.
       
       Was nicht erwähnt wird: Diese Flugzeuge sollen Jahrzehnte fliegen, weil sie
       sich sonst gar nicht amortisieren würden. Sie wären also 2050 immer noch in
       der Luft und würden weiterhin CO2 ausstoßen – nur eben 30 Prozent weniger
       als heute. Man muss kein Mathegenie sein, um zu erkennen, dass minus 30
       Prozent nicht das Gleiche wie minus 100 Prozent sind. Wir dürfen
       mittelfristig aber gar keine Treibhausgase mehr emittieren, wenn wir
       überleben wollen.
       
       Zudem wird der Bumerangeffekt vergessen: Es mag ja sein, dass das einzelne
       Flugzeug künftig 30 Prozent weniger Treibstoff benötigt – aber alle
       Schätzungen gehen davon aus, dass der weltweite Flugverkehr jährlich um
       etwa 3 Prozent zulegt. Am Ende würde also weitaus mehr CO2 ausgestoßen als
       heute.
       
       Diesen Einwand kennen die Fluggesellschaften natürlich und haben ein
       zweites Argument parat: Sie bauen auf den technologischen Wunderglauben
       ihrer Gäste und [3][versprechen klimaneutrale Treibstoffe]. Noch einmal die
       Lufthansa: „Der Fokus liegt dabei auf […] biogenen Reststoffen,
       erneuerbarer elektrischer Energie (Power-to-Liquid, PtL) und Sonnenlicht
       (Sun-to-Liquid, StL).“ So viele englische Fachbegriffe – das muss doch
       klappen.
       
       Tatsächlich klappt gar nichts. Um bei den „biogenen Reststoffen“
       anzufangen, die der Laie „Biomüll“ nennt: Leider ist er knapp. Der Abfall
       aus Pflanzen und Tieren ist begrenzt, weil sich die fruchtbaren Böden nicht
       vermehren lassen. Bliebe die Idee, mittels Windkraft und Sonnenenergie
       [4][synthetisches Kerosin herzustellen], indem man CO2 aus der Luft fischt
       und mit grünem Wasserstoff verbindet. Dieses PtL oder StL ist aber extrem
       aufwendig. Studien schätzen, dass Ökokerosin bis zu 40-mal so teuer wäre
       wie die fossilen Varianten aus Saudi-Arabien.
       
       Ebenso wird gern vergessen, dass auch Ökokerosin Kondensstreifen erzeugt,
       die die Erde zusätzlich erwärmen. Dabei sind diese feinen [5][Wolken hoch
       oben am Himmel] sogar noch schlimmer als das CO2, das die Flugzeuge
       hinterlassen.
       
       Fliegen hat keine Zukunft. Trotzdem wäre es falsch, den Passagieren ein
       schlechtes Gewissen einzureden und Flugscham zu verbreiten. Denn die
       Konsumenten sind nur Diener eines höheren Zwecks: Sie müssen fliegen, um
       Arbeitsplätze zu sichern. In Deutschland sind 850.000 Menschen direkt oder
       indirekt bei der kommerziellen Luftfahrt beschäftigt. Sie haben Kinder,
       müssen Kredite abbezahlen oder wollen für die Rente sparen. Der Abschied
       vom Fliegen kann daher nur gelingen, wenn diese Menschen abgesichert sind
       und neue Perspektiven erhalten. Für die Planung ist der Staat zuständig –
       nicht die Passagiere.
       
       Dies mag nach Freibrief klingen, ist aber keiner. Denn der Staat, das sind
       ja wir. Trotzdem sollten wir beim Klimaschutz nicht die Ebene verwechseln.
       Gefragt sind die WählerInnen, nicht die KonsumentInnen.
       
       19 Aug 2023
       
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