# taz.de -- Desinformation auf Messengerdienst: Wer kontrolliert Telegram?
       
       > Hier dürfen alle alles schreiben. Mit diesem Versprechen wurde der
       > Messengerdienst Telegram zur wohl wichtigsten Plattform für Hetze. Die
       > einzudämmen, ist nicht so leicht.
       
       STOCKHOLM/BERLIN taz | Es war der 26. März, gegen 1.30 Uhr morgens, als der
       Frachter „Dali“, beladen mit Tausenden Containern, [1][die
       Francis-Scott-Key-Brücke in Baltimore rammt]e. Einer der wichtigsten Häfen
       der USA ist nun unbefahrbar, der Wiederaufbau wird Jahre dauern. Zum
       Zeitpunkt des Unglücks tobte in den USA der politische Streit um ein von
       den Republikanern blockiertes Ukraine-Hilfspaket für 60 Milliarden Dollar.
       
       Wer wissen wollte, wer hinter dem Unglück steckte, der bekam die heißesten
       News beim Messengerdienst Telegram. Nur Stunden nach dem Vorfall kursierte
       auf vielen Social-Media-Plattformen die Falschmeldung, dass – „BREAKING“ –
       der Kapitän der „Dali“ ein Ukrainer war. Selbst auf Musks Plattform X gab
       es allerdings schnell Warnhinweise, dass der fragliche 52-jährige
       ukrainische Kapitän die „Dali“ nur bis 2016 steuerte. Auf Telegram aber
       übernahm scheinbar der ukrainische Widerstand die Verantwortung: Unter
       einem Bild der eingestürzten Brücke, mit stolzem Bizeps-Emoji, hieß es:
       „Wir werden euch noch beibringen, wie man die Demokratie verteidigt.“ Die
       Gruppe mit einem Banner der ukrainischen Armee im Profil bejubelte den
       angeblichen gelungenen Sabotageakt.
       
       Solche Posts waren Wasser auf die Mühlen der Gegner der Ukraine-Hilfen. Die
       Falschmeldung konnte sich auf Telegram ungehindert verbreiten und von dort
       immer wieder auf andere Plattformen gelangen. Denn Telegram, das auf eine
       Milliarde Nutzer:innen weltweit zusteuert, kennt keine Regeln. Kein
       Portal dieser Größe verzichtet so konsequent auf die Moderation von
       Inhalten und Faktenchecks. Mit nur 50 Beschäftigten, darunter 30
       Programmierern, betreibt der Gründer und Alleininhaber Pawel Durow, ein
       russischer Software-Entwickler, die Plattform aus Dubai.
       
       Die Freiheit, in den Gruppen mit bis zu 200.000 Nutzern und in Kanälen von
       unbegrenzter Größe alles zu verbreiten, hat Durow zum Markenkern erhoben.
       Telegram kämpfe für die Redefreiheit, heißt es in der Selbstdarstellung. Es
       habe so eine „prominente Rolle“ in prodemokratischen Bewegungen etwa in
       Iran, Russland, Belarus, Myanmar und Hongkong gespielt.
       
       ## Die zwei Gesichter von Telegram
       
       Das ist nicht falsch. An Orten, an denen freie Meinungsäußerungen kaum
       möglich sind, bietet Telegram einen offenen Raum. Doch gleichzeitig ist es
       heute die global womöglich wichtigste Plattform für Fake News,
       Verschwörungsideologie und Online-Hetze.
       
       Unter den heute zehn größten Telegram-Channels [2][in Deutschland etwa sind
       mindestens acht rechtsextrem], offene Kreml-Propaganda oder
       verschwörungsideologisch. Ihre jeweils sechsstellige Reichweite lässt dabei
       jene großer Tageszeitungen locker hinter sich. Die Plattform entwickle sich
       „zunehmend zu einem Medium der Radikalisierung“, schrieb das
       Bundeskriminalamt (BKA) schon 2022 und beklagte unter anderem die Zunahme
       von Mordaufrufen.
       
       „Die auf der Plattform geteilten prorussischen Desinformationen schaffen es
       weit über die Chatverläufe hinaus, tief in die politischen Diskurse und
       Einstellungen Einfluss zu nehmen“, heißt es in einer [3][Analyse des
       Berliner CeMAS-Instituts]. Rechtsextreme „Alternativmedien“ erreichen über
       Telegram ein sechsstelliges Publikum und schaffen es so, selbst größere
       Redaktionen zu finanzieren, so CeMAS.
       
       Weltweit verbreiten sich zweifelhafte Inhalte über die Plattform: Hamas,
       der IS, organisierte Kriminelle, Neonazis, sie alle nutzen die Freiheit von
       Telegram. Hier gibt es Bombenbauanleitungen, Todeslisten, Drogen, Waffen.
       
       In autoritären Gesellschaften ist Telegram ein Werkzeug des Kampfes für
       Rechte und Demokratie. Wo die Gesellschaften liberal verfasst sind, schafft
       sie hingegen einen Raum für Lügen und Hass. Wer sich dem zu lange aussetzt,
       wendet sich von der Demokratie ab.
       
       ## Ein EU-Gesetz soll helfen
       
       Seit dem 17. Februar ist nun in der EU ein Regelwerk in Kraft, das die
       Plattformen regulieren soll: das [4][Gesetz über digitale Dienste]. Der
       Digital Service Act (DSA) werde eine „sicherere und transparentere
       Online-Welt gestalten“, sagte Digital-Kommissarin Margrethe Vestager. Wer
       in Brüssel und Berlin heute herumfragt, wie die Politik gegen Hass und
       Desinformation auf Telegram und den anderen Plattformen vorzugehen gedenkt,
       bekommt fast immer die gleiche Antwort: mit dem DSA.
       
       2020 hatte Vestager dessen ersten Entwurf vorgelegt. Sie stand vor der
       Schwierigkeit, jeden Eindruck staatlicher Zensur vermeiden zu müssen und
       gleichzeitig ein wirksames Instrument gegen Desinformation und Hetze zu
       schaffen. Vestager präsentierte eine kluge Lösung. Der DSA listet
       „systemische Risiken“ auf – Bereiche in denen ein unkontrollierter
       Informationsfluss der Gesellschaft schaden kann: Grundrechte, Privatsphäre,
       Kinderrechte, Diskriminierung, öffentliche Gesundheit, Wahlen, öffentliche
       Sicherheit und der „zivile Diskurs“.
       
       Die großen Onlineplattformen müssen gegenüber der Kommission darlegen, was
       sie gegen diese Risiken tun. Eine eigens aufgebaute Abteilung der
       EU-Kommission unter Leitung des Deutschen Prabhat Agarwal prüft, ob die
       Anstrengungen ausreichend sind. Sind sie es nicht, drohen Bußgelder von bis
       zu 6 Prozent des jährlichen Konzernumsatzes.
       
       Diese Verpflichtung greift aber erst ab einer Nutzerzahl von 45 Millionen
       in der EU. Telegram behauptete im Februar 2024, nur 41 Millionen Nutzer zu
       haben. Fachleute bezweifeln dies, der EU reicht die Selbstauskunft aber
       vorerst. „Wir beobachten die Marktentwicklung“, sagt ein Sprecher der
       Kommission auf Anfrage der taz. Telegram jedenfalls kann so bisher dem
       „Risikomanagement“ entgehen.
       
       ## Bislang nur Verluste
       
       Das muss nicht so bleiben. Telegram ist kostenlos, Werbung gibt es kaum.
       Der Eigner Pawel Durow rechnet damit, bis 2025 weiter Verluste zu machen.
       Bisher sponsert er den Betrieb aus seinem Privatvermögen. Mitte März aber
       dachte Durow laut darüber nach, Telegram an die Börse zu bringen. Auf einen
       Wert von 30 Milliarden Euro schätzen Analysten den Unternehmenswert. Die
       US-Börsenaufsicht dürfte sich indes kaum mit so vagen Auskünften abspeisen
       lassen wie heute die EU. Gut möglich, dass Telegram einräumen wird, die
       45-Millionen-Schwelle überschritten zu haben, und „Risikomanagement“
       betreiben muss.
       
       Noch aber ist es nicht so weit. Das Unternehmen ist bekannt dafür, sich
       staatlicher Kontrolle zu entziehen. In Dubai „lässt die Regierung uns in
       Ruhe“, sagte Durow kürzlich. Das Emirat sei „neutral“. Während der
       jahrelangen Beratungen zum DSA schickte Telegram als einzige Plattform
       keine Lobbyisten nach Brüssel – eine absolute Ausnahme für Unternehmen
       dieser Größe, die sonst praktisch alles tun, um Gesetzgebungsverfahren in
       ihrem Sinne zu beeinflussen.
       
       Jahrelang war Telegram für Regierungen schlichtweg nicht erreichbar. Nur
       sieben Administratoren sollen für die mehr als 80.000 verschlüsselten
       Server zuständig sein, die weltweit verteilt sind. Einzelne Regierungen
       können schon rein technisch kaum darauf zugreifen. Vergeblich versuchte
       etwa das deutsche BKA lange, Nutzerdaten wegen Verdachtsfällen von
       Kinderpornografie und Terrorismus zu bekommen. Erst 2022 verkündete
       Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) stolz, es sei gelungen, „Kontakt
       zur Konzernspitze von Telegram herzustellen“.
       
       In einer Videkonferenz habe es das „erste konstruktive Gespräch zur
       weiteren Zusammenarbeit“ gegeben, man habe „vereinbart, den Austausch
       fortzusetzen“, so Faeser. Die Strafverfolgungsbehörden traten Telegram als
       Bittsteller entgegen. Allerdings nicht ohne Erfolg: Das Unternehmen rühmt
       sich zwar bis heute „0 Byte Nutzerdaten an Dritte einschließlich aller
       Regierungen“ weitergegeben zu haben. [5][Nach Recherchen des Spiegels
       rückte Durow an das BKA aber sehr wohl vereinzelt Daten heraus].
       
       Der DSA verpflichtet die Plattformen nun, einen Repräsentanten in der EU zu
       benennen, an den die Behörden sich wenden können. Telegram beauftragte
       dafür einen externen Dienstleister, eine neu gegründete Brüsseler
       Briefkastenfirma namens EDSR. Deren Geschäftsmodell ist es, für Plattformen
       aus Nicht-EU-Staaten die vom DSA geforderte Repräsentanz darzustellen.
       Inhaberin ist die kanadische Anwältin Jane Murphy, die das Geschäft
       pünktlich zum Inkrafttreten des DSA startete.
       
       ## Image maximaler Staatsferne
       
       Kann sich künftig an sie wenden, wer etwa auf Telegram mit dem Tod bedroht
       oder wessen Privatadresse veröffentlicht wird? Man sei „bedauerlicherweise
       nicht in der Lage, irgendetwas über die Klienten oder ihre
       Geschäftstätigkeit preiszugeben“, schreibt ein Sprecher Murphys auf
       taz-Anfrage.
       
       Vor einem Interview bittet er um ein Vorab-Gespräch per Videokonferenz,
       danach um einen vollständigen Fragenkatalog. Schließlich sagt er, Murphy
       befinde sich „in einer sehr arbeitsreichen Zeit“ und werde „in naher
       Zukunft nicht in der Lage sein, einen sinnvollen Beitrag zu einem Artikel
       zu leisten“. Viel gesprächiger ist Telegram selbst auch nicht, und das ist
       zweifellos der Sinn des Ganzen: Telegram weiterhin so weit abzuschotten,
       wie das Gesetz es zulässt.
       
       Denn Durow pflegt mit Hingabe das Image maximaler Staatsferne. Auch wenn
       Telegram heute als globales Vehikel russischer Propaganda gilt, weist Durow
       jede Verbindung zum Kreml strikt zurück. Tatsächlich musste er 2014
       Russland verlassen, nachdem es Ärger mit seiner ersten Plattform, dem
       russischen Facebook-Pendant VKontakte (VK) gab. Durow hatte sich geweigert,
       Daten an den russischen Geheimdienst FSB weiterzugeben und Inhalte zu
       löschen.
       
       Er musste seinen VK-Anteil kremlfreundlichen Oligarchen verkaufen. 2018
       verweigerte Durow der Regierung auch Telegram-Nutzerdaten, woraufhin der
       Messenger in Russland verboten wurde. Doch Durow vermochte den Bann
       technisch zu umgehen. Seither gilt er als aufrechter Kämpfer für die freie
       Meinungsäußerung.
       
       Durow kommt heute zugute, dass den Plattformen, die demokratiezersetzender
       Propaganda Raum geben, im Westen mit Sanftmut begegnet wird. Statt auf
       Härte setzt die EU auf Kooperation. Das kann funktionieren, solange die
       Konzerne halbwegs mitziehen. Aber die Tech-Milliardäre haben die Wahl,
       kooperativ zu sein, wenn es ihnen passt – wie derzeit Mark Zuckerberg mit
       Meta – oder eben nicht, wie eben Durow.
       
       Dabei könnte etwa die EU-Kommission Apple und Google anweisen, die
       Telegram-App in der EU aus dem App-Store zu verbannen. Die Plattform ließe
       sich in der EU technisch blockieren, ein Zugang wäre dann nur noch
       aufwändig per VPN-Tunnel möglich. Doch die Fake News würden sich andere
       Plattformen suchen – und der Westen stünde als Zensor da.
       
       ## Hybride Bedrohungen
       
       Dabei ist Telegram heute auch ein Instrument in Kriegen geworden. Die
       Plattform sei „fester Bestandteil der Kommunikations- und
       Informationskriegsführung der Hamas“, schreibt der israelische Analyst Tal
       Hagin. Ähnlich beim Ukrainekrieg. Am 19. Februar hörte Russland ein
       Gespräch deutscher Militärs zu möglichen Lieferungen von
       Taurus-Marschflugkörpern an die Ukraine ab.
       
       Zehn Tage später veröffentlichte Margarita Simonjan, die Chefredakteurin
       des russischen Staatsmedienkonglomerats Rossija Sewodnja, als Erste den
       Mitschnitt – nicht etwa in eigenen Sendern wie Russia Today, sondern auf
       ihrem Telegram-Kanal. Für „hybride Bedrohungen“ – etwa echte Informationen,
       die mit falschen gemischt und als Waffe eingesetzt werden – ist Telegram,
       wie der Taurus-Leak erneut zeigte, heute eine der ersten Adressen.
       
       Die EU hat einen Chefdiplomaten, der für „Foreign Information Manipulation
       and Interference“, für hybride Bedrohungen also, zuständig ist. Es ist der
       Deutsche Lutz Güllner. Nach dem Taurus-Leak reist er nach Berlin, um zu
       erklären, was die EU Russlands Info-Attacken entgegensetzt. An einem
       sonnigen Dienstag im März sitzt er in den Räumen der EU-Kommission in
       Berlin und spricht über den „schleichenden Prozess der Destabilisierung“,
       mit dem der Westen es zu tun habe.
       
       Die Kommission beobachte den „gezielten, langfristigen Aufbau von
       Netzwerken zur Manipulation von Informationen“, so Güllner. Desinformation
       sei alt, neu seien die technischen Möglichkeiten zur „Ampflizierung“:
       Geheimdienst-Operationen auf Plattformen bis hin zu Netzwerken von Usern
       mit falschen Identitäten. Russland sei einer der aktivsten Akteure. „Hier
       gibt es die größte Evidenz der Beteiligung staatlicher Stellen und ihrer
       Dunstkreise.“
       
       Desinformation müsse dabei nicht faktisch falsch sein. Entscheidend sei die
       manipulative Absicht – etwa bei den Bauernprotesten. „Die sind nicht per se
       orchestriert von Moskau und niemand wird behaupten, dass da nicht auch
       tatsächliche Sorgen dahinterstehen, ob man das nun teilt oder nicht.“ Doch
       Desinformations-Netzwerke „springen ganz opportunistisch auf solche
       Konflikte auf und verstärken sie“.
       
       Tatsächlich hatten während der Bauernproteste etwa die Putin-begeisterten
       rechtsextremen Medien Auf1 – ein österreichischer TV-Sender – und das
       Compact-Magazin sich als Sprachrohr der Proteste inszeniert. Auf1 hatte
       dabei vor allem auf seinem Telegram-Kanal – 270.000 Abonnenten – von
       „tatsächlichen Geheimplänen“ der „globalistischen Eliten“ geraunt, die
       „groß angelegten Bevölkerungsaustausch“ anstrebten. Compact hatte während
       der Proteste auf Telegram – 60.000 Abonnenten – unter anderem behauptet,
       Moskau habe „die Nase gestrichen voll von der deutschen Kriegstreiberei“,
       weshalb die „Legitimation für die deutsche Wiedervereinigung“ infrage
       gestellt sei. Das ist zweifellos manipulativ. Doch wer „nur auf die Inhalte
       schaut, kommt auf die schiefe Ebene, verheddert sich in Fragen, was gesagt
       werden darf“, sagt Güllner. „Wer sollte denn entscheiden, was irgendwo
       runtergenommen wird?“
       
       ## Schweden ist schon weiter
       
       Besser sei, auf die Mittel zu schauen: Etwa ob Bots verwendet oder
       Identitäten vorgetäuscht werden. „Das ist ein klarer Indikator für
       Manipulation, das sind illegitime Mittel.“ Denn schnell ist sonst der
       Vorwurf im Raum, die Redefreiheit zu beschränken. Er würde die Logik gern
       umkehren, meint Güllner dazu. „Indem wir Manipulation zurückdrängen,
       schützen wir die freie Meinungsäußerung der echten, genuinen, authentischen
       Stimmen.“
       
       Denn der Westen sei „nicht schutzlos“, sagt Güllner. „Wir können selber
       transparent sein, aufklären, die Muster zeigen.“ Zivilgesellschaft,
       Medienkompetenz, Fakt-Checking Organisationen und Forschung müssten
       gestärkt werden. Letztlich müssten die Regierungen auch regulieren – und
       sanktionieren. Den DSA nennt Güllner „einen sehr wichtigen Schritt nach
       vorne, aber nicht ausreichend“. Er müsse „flankiert werden durch andere
       Maßnahmen.“ Immerhin nehme die Verordnung die Tech-Unternehmen nun in die
       Pflicht. Das Konzept, „das Risiko zum Thema machen, nicht den Inhalt,“ hält
       Güllner für einen guten Weg.
       
       Das sieht man auch in Schweden so. Es ist neben Frankreich das einzige
       EU-Land, das dafür eine nationale Behörde aufgebaut hat: die zum
       Verteidigungsministerium gehörende Agentur für Psychologische Verteidigung
       nämlich. Sie residiert in Stockholm in einem unauffälligen gelben Gebäude
       nördlich der Innenstadt. Gitter und Türen sind dicker als bei Ämtern
       üblich, der Eingang ist schwerer gesichert, als die zivile Erscheinung
       erwarten lässt.
       
       Das Interieur ist nobel, auf Sideboards stehen Nato-Wimpel. Gäste werden
       zuvorkommend behandelt, aber keine Sekunde aus den Augen gelassen. „Der
       Informationskrieg ist eine ernste Sache,“ sagt Andrea Liebman. Sie leitet
       die Analyse-Abteilung. In Wollpulli und Jeans sitzt sie am Tisch, drei
       Handys vor sich. Fast hätte sie es nicht in die Stadt geschafft, zu dicht
       war an diesem Freitag im April noch das Schneetreiben.
       
       ## Das Recht auf Unwahrheit
       
       Seit der Annexion der Krim sei klar gewesen, dass Schweden ins Visier
       hybrider Angriffe aus Russland geraten könnte, sagt Liebman So begann das
       Land schon 2014, sich gegen „maligne Desinformation“ systematisch zu
       wehren. Liebman benutzt die gleiche Vokabel, die im Englischen für
       bösartige Tumore verwendet wird. Und je stärker das Land in die Nato
       strebte, desto stärker wurden die Attacken.
       
       „Menschen haben das Recht, Unwahrheiten zu sagen“, sagt sie. „Das rühren
       wir nicht an.“ Relevant werde es erst, wenn „ausländische Akteure unter
       falscher Flagge versuchen, die schwedische Bevölkerung, schwedische
       Entscheidungen oder schwedische Interessen zu beeinflussen“. Liebman setzt
       dagegen vor allem auf eigene Kommunikation. 2022 etwa attackierten
       islamistische Gruppen Schweden mit massenhaften Falschmeldungen über den
       angeblichen Entzug von Kindern aus islamischen Familien.
       
       Die Kinder würden zur „Zwangschristianisierung“ in staatliche Pflegeheime
       gesteckt, in denen Pädophile arbeiteten. Das Risiko für Terroranschläge
       stieg. „Wir haben den Ministerpräsidenten gebrieft, der hat in einer
       Pressekonferenz zu den Falschbehauptungen Stellung bezogen“, sagt sie.
       Behörden kommunizierten auf Arabisch – mit Erfolg. „Der Schlüssel war, zu
       diesem Zeitpunkt selbst eine breite Öffentlichkeit anzusprechen.“
       
       Gegenüber den Plattformen setzt Liebman auf Kooperation. „Es sind
       gigantische private Unternehmen, die eine unglaubliche Macht haben“, sagt
       sie. Nicht nur finanzielle Macht, sondern auch eine „unglaubliche Menge“ an
       Wissen über die Nutzer. „Sie wissen mehr über die Bevölkerung als das
       eigene Land.“ Die Agentur stehe in „ständigem Dialog mit den Plattformen“,
       sagt Liebman. Für Telegram gilt das allerdings nicht.
       
       „Aber wir sagen ihnen nicht, was sie tun sollen. Wir schlagen niemals vor,
       Informationen zu blockieren.“ Die Redefreiheit sei ein zu hohes Gut. Die
       Plattformen hätten schließlich schon vor Jahren begonnen, Mechanismen gegen
       Desinformationen einzuführen. Das sei mittlerweile Teil ihrer PR. „Die
       Plattformen wollen verstehen, welche enorme Wirkung sie auf unsere
       demokratischen Gesellschaften haben, sie wollen sich selbst regulieren“,
       glaubt Liebman. Der DSA verstärke dies.
       
       Aber was, wenn nicht – so wie Telegram? Das sei „sicher eine
       Herausforderung“, räumt Liebman ein. „Da wir wissen, dass Telegram nicht
       ansprechbar ist, beobachten wir eher, welche Schwachstellen damit verbunden
       sind“, sagt sie. Dialogversuche würden „sowieso nicht funktionieren“, da
       das Unternehmen die Plattform nicht vor Desinformation schütze. Also müsse
       man die „Schwachstellen aus der Perspektive der Verwundbarkeit betrachten.“
       Soll heißen: Gegenstrategien entwickeln, wenn die hybriden Attacken sich
       auf Telegram verbreiten.
       
       ## Druck wirkt
       
       Das Dilemma ist groß: Lassen Staaten die Dinge in den sozialen Medien
       laufen, wenden sich weiter Menschen von der Demokratie ab, kann Russland
       seinen Einfluss ausbauen. Schreiten die Staaten zu sehr ein, tasten sie die
       Redefreiheit an. Müssen sie also weiter hinnehmen, wenn auf Telegram der
       Ukraine die Zerstörung der Baltimore-Brücke oder den Grünen der Geheimplan
       des „Großen Reset“ in die Schuhe geschoben wird?
       
       Ja und Nein, sagt Mauritius Dorn vom Institute for Strategic Dialogue,
       einer der wichtigsten Institutionen, die über Regeln für soziale Medien
       nachdenken. Zwar könne Desinformation als „systemisches Risiko“ im Sinne
       des DSA eingestuft werden, gegen das die großen Plattformen vorgehen
       müssen. „Das bezieht sich aber nie auf einzelne Inhalte, sondern auf die
       Dienstleistungen, die zur Entstehung solcher Risiken beitragen“, so Dorn.
       Allerdings biete das EU-Recht Möglichkeiten, um gegen rechtswidrige Inhalte
       wie Verleumdung, Volksverhetzung oder terroristische Gewaltaufrufe auf
       Telegram vorzugehen.
       
       Dass Telegram für die Staaten so unantastbar sei, wie die Plattform selbst
       gern glauben mache, sei ein Irrtum, sagt der Gründer des CeMAS-Instituts,
       Josef Holnburger. „Bei genügend Druck beugt sich Telegram. Auch wenn sie
       angeben, dass sie nie mit Staaten kooperieren – die Historie zeigt, dass
       das nicht stimmt.“ Der [6][Nawalny-Spendenbot] etwa wurde gelöscht, in
       Indonesien und Brasilien habe die Plattform auch kooperiert. „Telegram
       knickt bei zu viel Druck ein, zumindest zeitweise.“ Anscheinend habe auch
       der Druck der EU hier bereits etwas bewegt. Wie viel und wie lange, bleibe
       abzuwarten.
       
       13 Apr 2024
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Brueckeneinsturz-in-Baltimore/!6000993
 (DIR) [2] /Kooperation-gegen-Rechtsextremismus/!5929294
 (DIR) [3] https://report.cemas.io/telegram/
 (DIR) [4] /Digital-Markets-und-Digital-Services-Act/!5992274
 (DIR) [5] https://www.spiegel.de/netzwelt/apps/telegram-gibt-nutzerdaten-an-das-bundeskriminalamt-a-0e4d3fcb-8081-4b87-b062-db412bbc294b
 (DIR) [6] https://www.rferl.org/a/telegram-navalny-smart-voting/31466263.html
       
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       verbreitet würden. Nun wurde die Sperrung des Dienstes angeordnet.
       
 (DIR) Kooperation gegen Rechtsextremismus: Telegram taucht ab
       
       Viele Rechtsextreme nutzen den Messengerdienst Telegram weiter für sich.
       Der Konzern aber verweigert seit Monaten eine Zusammenarbeit mit dem BKA.
       
 (DIR) Bußgelder gegen Messengerdienst: Telegram muss blechen
       
       Das Bundesjustizministerium verhängt Bußgelder gegen den Messengerdienst.
       Grund sind fehlende Meldewege zu Hassbotschaften.