# taz.de -- Aby Warburgs Bilderatlas in Berlin: Als Judith der Nymphe begegnete
       
       > Die Originale von Aby Warburgs legendärem Bilderatlas galten lange als
       > verschollen. Nun sind viele Tafeln in Berlin zu sehen.
       
 (IMG) Bild: Aby Warburgs Bilderatlas Mnemosyne im Berliner Haus der Kulturen der Welt
       
       Ist dies eine Kathedrale, mit Mosaiken an den Wänden? Das Licht ist
       schummrig, 50 Lux, den fragilen Exponaten zuliebe. In der großen
       Ausstellungshalle im Haus der Kulturen der Welt in Berlin hängen über 70
       Tafeln, auf denen 971 alte Reproduktionen den berühmten Bilderatlas von Aby
       Warburg bilden, in geschwungenen Bögen im Raum.
       
       Von Weitem bilden die Abbildungen ein abstraktes Muster, die kurvige
       Hängung ist in Anlehnung an den 1926 in Hamburg gebauten Vortragssaal der
       Bibliothek Aby Warburgs entstanden. Die sakrale Anmutung passt gut, sind
       doch sowohl Aby Warburg wie sein Bilderatlas legendäre Figuren der Kunst-
       und Kulturgeschichte.
       
       Die ersten Vorlesungen des neu gegründeten Fachs Kunstgeschichte fanden in
       Hamburg in der [1][Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg (K.B.W.)]
       statt. Sie war mit Telefonen und Rohrpost ausgestattet, um das Instrument
       der Abbildung, als Stich oder als Fotografie, in unterschiedlichen
       Kontexten zur Verfügung zu haben. Die ersten Bildtafeln mit Abbildungen zum
       Vergleich nutzte Warburg bei Vorträgen und Diskussionen über seine Thesen
       zur Antike und ihrem Fortleben in den Künsten des Mittelalters und der
       Renaissance.
       
       Abbildungen waren ein kostbares Gut, erläutert Roberto Ohrt, einer der
       Kuratoren der Ausstellung. Erhielten Kunsthistoriker Zugang zu einer
       Sammlung und durften fotografieren, war das ein Glück. In Florenz war Aby
       Warburg Stammkunde bei Fratelli Alinari, der mit Fotografien zur Geschichte
       Italiens seit 1850 handelte. Warburg gab dafür, wie Claudia Wedepohl im
       Folio-Band des bei Hatje Cantz neu publizierten „Bilderatlas Mnemosyne“
       berichtet, so viel Geld aus, dass er seinen Vater, einen Bankier, um
       Nachschub bitten musste.
       
       ## Selbst unter Experten galt der Bilderatlas als verschollen
       
       Seit den 1970er Jahren hat es immer wieder Publikationen und Ausstellungen
       zu dem unvollendeten Projekt Bilderatlas gegeben, welche die Tafeln nach
       Fotografien rekonstruierten, die während ihrer Entstehung zwischen Mai 1928
       und dem Tod Aby Warburgs im Oktober 1929 gemacht worden waren. Selbst unter
       Experten galt der originale Bilderatlas als verschollen. Die Tafeln waren
       mit der Kulturhistorischen Bibliothek Warburg, die im Dezember 1933 mit
       einem Frachtschiff vor dem Zugriff der Nationalsozialisten in Sicherheit
       gebracht wurde, nach London gewandert.
       
       Die Sensation dieser Ausstellung ist, dass Roberto Ohrt bei Recherchen in
       der K.B.W. feststellte, dass die ursprünglich genutzten Fotografien und
       Grafiken in dem nach einem Index neu geordneten Fotoarchiv des K.B.W. noch
       vorhanden waren. In vier Wochen fand er mit einem Team 80 Prozent der
       Originale wieder. Anders als in den Rekonstruktionen zu sehen, sind sie
       nicht nur schwarz-weiß, sondern teils auch in Sepiatönen und zarten
       Farben.
       
       Mit symbolischen Darstellungen des Kosmos, mit bildlichen Ordnungen von
       Zeit und Raum, mit Astrolabien und Tierkreiszeichen und ihrem Bezug zum
       Menschen beginnen die ersten Tafeln. Den Anfang der chronologischen
       Bilderzählung kann auch der Laie entschlüsseln, viele Tafeln aber steigen
       tief in die Kunstgeschichte ein. Dennoch macht es Spaß, nach den visuellen
       Elementen der Verbindung zu suchen, oft sind es Gesten und Gebärden, die
       über Epochen hinweg die bildlichen Narrationen verbinden.
       
       Berühmt geworden für ihren Auftritt im Bilderatlas ist etwa die Figur der
       Nymphe, die mit wehendem Gewand bei Botticelli den Frühling verkörpert. Sie
       trägt einen Korb mit Früchten auf dem Kopf. Eine ganz ähnliche Bewegung,
       körperlich zunächst, aber auch in der Ergreifung des Betrachtenden, sah
       Warburg bei den biblischen Figuren der Judith und der Salome, die im Korb
       allerdings den abgeschlagenen Kopf ihres Widersachers trugen. Auf Tafel 47
       begegnen sich Nymphen und ihre heroischen Verwandten.
       
       ## Traumatisierende Kriegserfahrungen
       
       Bei diesen Vergleichen geht es nicht nur um die Behauptung eines
       kollektiven Bildgedächtnisses, um das Wandern von Formen und Motiven,
       sondern auch um eine Neubewertung des Pathos. Das lässt sich auch in der
       begleitenden Ausstellung der Gemäldegalerie sehen, die 50 originale
       Kunstwerke zeigt, die Warburg auf seinen Tafeln thematisierte, darunter
       Bilder von Mantegna, Carpaccio, Ghirlandaios „Judith mit ihrer Magd“. Die
       starke Bewegtheit vieler Figuren, ausschreitende Beine, weitgreifende Arme,
       das fällt selbst beim Abschreiten der Tafeln ins Auge.
       
       Warburg legte den Fokus auf Szenen, die innere und äußere Bewegung
       synchronisierten, einen sichtbar starken Ausdruck schufen. Dieses Interesse
       beruhte in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg auch auf den
       traumatisierenden Kriegserfahrungen, die eben oft unter der Oberfläche
       gehalten wurden. Viele Bildbeispiele Warburgs gelten Kämpfen, Schlachten
       und Triumphzügen, mit Gewalt aufgeladenen und vor Bewegtheit wimmelnden
       Bildern, die selbst noch in den verkleinernden Reproduktionen die
       Ausstellungshalle mit Kriegslärm erfüllen.
       
       In der Gemäldegalerie ist auch eine norwegische Brautschachtel von 1702 zu
       sehen, auf der ein Hosenkampf abgebildet ist: Sieben Frauen kämpfen um
       eines Mannes Hose. Das Motiv, das nicht sehr freundlich auf Zeiten des
       Frauenüberschusses hinweist, ist, wie man auf der Tafel 32 des Bilderatlas
       sehen kann, gar nicht so selten in der Kunst. Warburg hat es mit
       komplementären Motiven zusammengestellt, in denen Affen einen Kaufmann
       ausrauben und in denen Männer eine Frau mit anzüglichen Absichten umtanzen.
       Hier vertieft man sich gern und spekuliert über die Bedeutung.
       
       Der „Bilderatlas Mnemosyne“ war ein Buchprojekt, das nicht zur Publikation
       kam. Er war aber auch ein Instrument zum Querdenken über Grenzen von
       Epochen, Genres und Wissenschaften hinweg; vor allem deswegen ist er zu
       einem Referenzpunkt für Künstler:innen und Kurator:innen geworden. Die
       jetzige Rekonstruktion des Originals, die um informative Texttafeln ergänzt
       ist, sehen die Kuratoren Roberto Ohrt und Axel Heil auch als Impuls,
       weitere Ausstellungen und Forschungen anzuregen.
       
       Auf einer der letzten Tafeln geht es um Rembrandt, der in der aufkommenden
       Ideologie der Nationalsozialisten als nordischer Künstler vereinnahmt
       wurde, als autonomer Schöpfer, unabhängig von Vorbildern. Gegen solche
       Stilisierungen zum Genie verwahrt sich eben die Methode Warburgs, die
       vergleichende Betrachtung, in der immer wieder die Bezüge zwischen Nord und
       Süd, Antike, Mittelalter und Renaissance kenntlich gemacht werden.
       Publikationen aus dem Warburg-Kreis wurden als „jüdische Wissenschaft“
       diffamiert. Auch deshalb ist die Begegnung mit dem Atlas ein wichtiges
       Stück Erinnerung.
       
       9 Sep 2020
       
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