# taz.de -- Ökonom Bofinger über die Schuldenbremse: „Es wurde viel falsch gemacht“
       
       > Deutschland sei wieder der kranke Mann Europas, sagt der Ökonom Peter
       > Bofinger. Auch das auf den Automobilsektor ausgerichtete Geschäftsmodell
       > trage nicht mehr.
       
 (IMG) Bild: Wirtschaftspolitik soll bezahlbaren Wohnraum liefern, findet Peter Bofinger – wie hier in Leipzig
       
       taz: Herr Bofinger, hat es Sie überrascht, als die Mitglieder des
       Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen
       Entwicklung, also die „Wirtschaftsweisen“, vor Kurzem eine Reform der
       Schuldenbremse vorschlugen? 
       
       Peter Bofinger: Der Sachverständigenrat schlägt lediglich vor, die
       Schuldenbremse etwas flexibler zu gestalten. Das ist noch keine
       grundlegende Abkehr von ihren Prinzipien. Trotzdem war ich äußerst positiv
       überrascht von dieser Forderung.
       
       Warum? 
       
       [1][Veronika Grimm hatte sich noch kurz zuvor] mit Christian Lindners
       Berater Lars Feld sehr dezidiert für die Schuldenbremse ausgesprochen. Dass
       nun offenbar auch seitens konservativer Ökonomen das Tabu Schuldenbremse
       gebrochen und Reformvorschläge gemacht werden, ist ein sehr wichtiges
       Signal. Die Schuldenbremse ist eine Zwangsjacke, mit der man in der
       gegenwärtigen Situation keine gestaltende Wirtschaftspolitik machen kann.
       
       Wie müsste eine Reform der Schuldenbremse aussehen? 
       
       Ein Vorschlag ist, dem Staat schuldenfinanzierte Nettoinvestitionen zu
       ermöglichen. Dann könnte er für Investitionen, die über den Erhalt der
       Infrastruktur hinausgehen, neue Kredite aufnehmen.
       
       Gibt es andere Möglichkeiten? 
       
       Man könnte beschließen, dass der Schuldenstand nicht in absoluten
       Euro-Beträgen gleich bleiben sollte, sondern im Verhältnis zur
       Wirtschaftsleistung in laufenden Preisen. Wenn die Wirtschaftsleistung
       steigt, wächst damit dann der Rahmen, in dem sich der Staat verschulden
       kann. Damit hätte die Regierung deutlich mehr Spielraum. Bei einem
       Schuldenstand von 65 Prozent würde dies eine Neuverschuldungsrate von 1,5
       Prozent statt 0,35 Prozent des Bruttoinlandsproduktes ermöglichen. Das
       würde bedeuten, dass der Bund derzeit statt etwa 15 Milliarden Euro 60
       Milliarden Euro an neuen Krediten aufnehmen könnte.
       
       Wäre diese Schuldenregel optimal? 
       
       Besser wäre es, wenn es gar keine quantitative Begrenzung der
       Neuverschuldung gäbe, dafür aber die Verpflichtung, dass der
       Kreditspielraum nur für Zukunftsinvestitionen verwendet werden darf. Um das
       zu überprüfen, sollte die Regierung verpflichtet sein, die mit Schulden
       finanzierten Ausgaben von vornherein zu spezifizieren. Dies würde einen
       öffentlichen Diskurs über die Sinnhaftigkeit der Ausgabe ermöglichen.
       
       Für eine Reform der Schuldenbremse braucht es eine Zweidrittelmehrheit im
       Bundestag. CDU-Chef Merz fordert jedoch einen schlanken Staat und Kürzungen
       im sozialen Bereich. Ist eine Einigung mit der Union überhaupt realistisch? 
       
       Mit seinen Forderungen wird Merz nicht weit kommen. Beim Sozialstaat ist
       nicht mehr viel zu holen. Er kann vielleicht versuchen, ein bisschen
       [2][Geld beim Bürgergeld herauszuquetschen]. Aber an die Rente wird er
       nicht gehen. Das sind doch seine Wähler*innen. Merz hat also gar keinen
       echten Handlungsspielraum.
       
       Wie hoch ist überhaupt der Investitionsbedarf in der öffentlichen
       Infrastruktur? 
       
       Vor allem die Kommunen haben einen großen Rückstau bei den Investitionen.
       Auch bei der Bahn ist der Investitionsbedarf enorm. Berücksichtigt man
       dies, bräuchte der Staat in den nächsten zehn Jahren grob geschätzt einen
       zusätzlichen finanziellen Spielraum von jährlich 50 Milliarden Euro.
       
       Ließe sich diese Summe auch durch eine Besteuerung von Vermögen oder höhere
       Steuern für Besserverdienende auftreiben? 
       
       Die Vermögenssteuer halte ich für keine gute Lösung, da sie dazu führen
       kann, dass Einkommen mit deutlich mehr als 50 Prozent besteuert werden.
       Spielraum sehe ich bei der Erbschaftssteuer auf große Vermögen. Auch beim
       Spitzensteuersatz für sehr hohe Einkommen besteht noch Luft nach oben. Aber
       es wird nicht möglich sein, auf diesem Wege rechtzeitig die Mittel
       aufzubringen, die man in den kommenden Jahren für mehr öffentliche
       Investitionen in die Infrastruktur und für die staatliche Förderung
       erneuerbarer Energien und innovativer Technologien benötigt.
       
       Derzeit sind Steuersenkungen für Unternehmen im Gespräch. Begründet wird
       das mit der angeblich schlechten Wettbewerbsfähigkeit. Ist die Lage
       tatsächlich so schlecht? 
       
       Die deutsche Wirtschaft ist derzeit in einer gefährlichen Situation. Im
       Automobilbereich haben insbesondere die Zulieferer gravierende Probleme,
       aber auch für Volkswagen wird die Situation immer schwieriger. Gleichzeitig
       fährt die energieintensive Industrie ihre Produktion zurück. Insofern reden
       derzeit zwar alle über den Fachkräftemangel, doch kann sich die Situation
       auch auf dem Arbeitsmarkt schnell ändern.
       
       Ist Deutschland also wieder der kranke Mann Europas? 
       
       Ja. Krank bedeutet nämlich, dass das bisherige, auf den Export, die
       Industrie und insbesondere den Automobilsektor ausgerichtete
       Geschäftsmodell einfach nicht mehr trägt.
       
       Sind niedrigere Unternehmenssteuern, wie sie auch Wirtschaftsminister
       Robert Habeck ins Spiel gebracht hat, die richtige Maßnahme? 
       
       Statt die Steuern mit der Gießkanne zu senken, muss jetzt überlegt werden,
       wo man in zehn Jahren stehen will, in welchen Bereichen und Technologien
       die deutsche Wirtschaft künftig punkten kann. Diese sollten gezielt
       gefördert werden. Da wurde in der Vergangenheit viel falsch gemacht.
       
       Inwiefern? 
       
       Die Politik hat lange nicht erkannt, dass wir eine Umstellung auf
       Elektromobilität brauchen. Bei der [3][Batteriezellproduktion, die das
       Herzstück der Elektromobilität] ist, sind die deutschen Autobauer jetzt
       nahezu blank.
       
       Ist es dann überhaupt noch sinnvoll, die Automobilindustrie zu fördern? 
       
       Das ist sicherlich noch sinnvoll. Es ist aber eine konsistente Strategie
       notwendig, wie die Branche künftig aufgestellt sein soll.
       
       Braucht es dafür auch einen Staat, der aktiv Industriepolitik betreibt? 
       
       Natürlich. Es ist ein Staat notwendig, der strategisch denkt und überlegt,
       wie man das Land voranbringt. China und die USA mit ihrem Inflation
       Reduction Act machen das genau so.
       
       Glauben Sie, dass die verfehlte Wirtschaftspolitik auch schuld am Aufstieg
       der AfD ist? 
       
       Die Gründe für den Aufstieg der AfD würde ich eher jenseits der
       Wirtschaftspolitik verorten. Aber der Staat sollte auf die Unzufriedenheit
       im Land eingehen und zeigen, dass er für die Menschen da ist.
       
       Was würden Sie machen? 
       
       Wir haben derzeit eine massive Krise im Bausektor. Gleichzeitig steigen
       vielerorts die Mieten und [4][bezahlbarer Wohnraum wird immer knapper]. Was
       es also braucht, ist ein groß angelegtes Wohnungsbauprogramm. Denn
       bezahlbarer Wohnraum ist für viele Menschen ein dringendes Problem – dies
       sollte die Politik endlich angehen.
       
       28 Mar 2024
       
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