# taz.de -- Jim Jarmusch über seinen neuen Film: „Tilda sieht aus wie eine Raubkatze“
       
       > Jim Jarmusch hat einen Vampirfilm gedreht: „Only Lovers Left Alive“.
       > Warum Vampire? Warum in Detroit? Und was macht er, wenn der Film nein
       > sagt?
       
 (IMG) Bild: Tilda Swinton als Eve und Tom Hiddleston als Adam in einer Filmszene von „Only Lovers Left Alive“ – ab 25. Dezember in den deutschen Kinos.
       
       sonntaz: Herr Jarmusch, was hat Ihr Interesse an Vampiren erregt? 
       
       Jim Jarmusch: Ich bin ein Filmfanatiker und ich mag die Qualitäten
       unterschiedlicher Genres. Das Vampirgenre ist ausgesprochen reich. Einige
       meiner Lieblingsfilme sind Vampirfilme, meistens solche, die sich abseits
       der Genreformeln bewegen. Zum Beispiel Tony Scotts „Hunger“ oder Abel
       Ferraras „The Addiction“, und Claire Denis hat einen Film gedreht, der
       heißt …
       
       … „Trouble Every Day“ … 
       
       Genau. Oder das Remake, das Werner Herzog von „Nosferatu“ gemacht hat. Oder
       Carl Theodor Dreyers Film „Vampyr“.
       
       Der ist großartig, nicht wahr? 
       
       Ja, und überhaupt kein Monsterfilm.
       
       Es gibt eine tolle Sequenz, in der der Protagonist im Sarg liegt; die
       Kamera schaut aus seiner Position in den Himmel, und gleichzeitig sitzt er
       auf einer Bank und schaut seiner eigenen Beerdigung zu. 
       
       Ja, und all die neblig-weißen Szenen, die waren einfach ein Kamerafehler
       beim Dreh. Dreyer sah es und sagte: „Wow, das gefällt mir, können wir mehr
       davon haben?“ „Vampyr“ ist wirklich ein sehr schönes Beispiel. Hinzu kam,
       dass ich einen Film drehen wollte, in dem die Figuren einen historischen
       Überblick haben. Sie leben schon sehr lange, so dass sie ein breites Wissen
       haben; sie sind kultiviert, und zugleich haben sie etwas Animalisches.
       Jahrhundertelang waren sie Raubtiere, und nun lassen sie das hinter sich,
       durch Kultiviertheit. Tilda [Swinton] sieht ja manchmal aus, als würde sie
       wie eine Raubkatze umherstreifen. 
       
       Ihr Film ist voller Anspielungen auf Vampir-Literatur, etwa auf einen
       Schreibwettbewerb, den die englischen Autoren Lord Byron, Mary Shelley und
       John Polidori 1816 austrugen. 
       
       Es gibt zwar deutsche Vampir-Geschichten, die den Romantikern vorausgingen.
       Aber für mich beginnt die Vampir-Literatur mit John Polidori und der
       englischen Romantik. Adam ist ja vom Wesen her Romantiker, Eve eher
       Klassizistin. Sie ist die Sonne, er der Mond, sie ist optimistisch, während
       er zur Dramatik neigt: „Ich werde mich umbringen … diese Menschen …“
       
       Warum heißen sie Adam und Eve? Wegen der Bibel? 
       
       Nein, wegen Mark Twains wunderbarem Buch „The Diaries of Adam and Eve“. Das
       war eine wichtige Inspirationsquelle für meinen Film. Diese Tagebücher sind
       wunderschöne, witzige Analysen von Männern und Frauen und den Unterschieden
       in der jeweiligen Wahrnehmung. Das ist natürlich eine Verallgemeinerung.
       Aber jedes Klischee enthält eine Wahrheit.
       
       Ihr Film ist voller Anspielungen auf Literatur, Kino, Musik … 
       
       … auf Wissenschaft, hoffe ich …
       
       Wie kommen die Anspielungen in den Film? Ist das eine bewusste Auswahl? 
       
       Eher eine zufällige und intuitive. Ich schreibe jede Menge ins Drehbuch
       hinein. Dann sortiere ich wieder aus. Beim Drehen sind es dann aber immer
       noch viel zu viele. Beim Schneiden schmeiße ich sie raus. Obwohl ich sie
       liebte, musste ich eine Menge coole Referenzen rausschneiden. Sie wirkten
       fehl am Platz, so als wollte der Film damit protzen. Filmen bedeutet für
       mich, zu viele Dinge anzusammeln. Und im Schneideraum wähle ich aus, was
       der Film will.
       
       Woher wissen Sie, was das ist? 
       
       Das habe ich über die Jahre gelernt: Der Film sagt mir schon, wenn er etwas
       nicht will. Das ist manchmal schwierig, weil ich daran hänge, und dann will
       ich, dass der Film es will. Aber der Film sagt: nein. Bei diesem Film gibt
       es 30 Minuten Outtakes, die ich später mal auf DVD rausbringen werde. Ich
       liebe jedes einzelne. Aber der Film will sie nicht, und er will auch nicht
       so lang werden; je länger er wird, umso ernster nimmt er sich, und er ist
       ohnehin schon ein wenig zu lang. 
       
       Was fehlt denn zum Beispiel? 
       
       Eine Szene in Detroit, Eve ist gerade angekommen und unterwegs zu Adams
       Haus. Ich sagte: „Das dauert zu lange, was können wir nur herausnehmen?“
       Der Schnittmeister sagte: „Diese Szene, aber wir lieben sie beide.“ Ich:
       „Ja, die möchte ich nicht herausnehmen.“ Er: „Wir nehmen sie versuchsweise
       heraus, dann können wir sie ja wieder einfügen.“ Also nahmen wir sie raus,
       und der Film war glücklich, dass sie fort war.
       
       Aber man sieht doch, wie Eve im Taxi durch die Detroit fährt. 
       
       Ja. Aber in Detroit leben mehr Menschen, die Arabisch sprechen, als in
       jeder anderen Stadt Nordamerikas. Sie sagt auf Arabisch etwas zum
       Taxifahrer. Er fragt auf Arabisch: „Sprechen Sie Arabisch?“ Sie antwortet
       „Ja“, auf Arabisch. Er fragt: „Könnte ich einen Zwischenstopp einlegen? Ich
       muss meinem Schwiegerbruder etwas geben.“ Sie: „Kein Problem.“ Und er geht
       in dieses kleine Café hinein, es ist voller arabischer Amerikaner, er gibt
       einem Mann einen Umschlag, kommt wieder raus, und sie fahren weiter. Der
       Film sagte: Ich will das nicht, es ist unwichtig. 
       
       Zugleich sind im Film viele Referenzen enthalten, wie in einer
       Wunderkammer. Ich habe eine ganze Menge nachgeschlagen: Was heißt „fly
       agaric“ auf Deutsch? Was hat es mit Polidori und Byron auf sich? Wünschen
       Sie sich ein Publikum, das sich zu einer Entdeckungsreise inspirieren
       lässt? 
       
       Oh, ich liebe es, dass Sie von Wunderkammer sprechen! Wenn ein Film von mir
       eine Anspielung enthält, die ein Zuschauer nicht sofort nachvollziehen kann
       und dieser Zuschauer ihr dann nachgeht, dann … oh Mann, dann haben wir
       etwas erreicht!
       
       Zugleich wird so etwas leicht missverstanden – als elitär. Wie gehen Sie
       damit um? 
       
       Dessen bin ich mir bewusst. Viele Leute mögen den Film prätentiös finden.
       Irgendwo habe ich gelesen, dass ich nichts anderes tue, als mit
       Geheimwissen anzugeben. Das hat mich traurig gemacht, weil ich den Eindruck
       gewann, ich sollte dümmere Filme machen. Das war entmutigend. Sie benutzen
       das Wort „elitär“, und in Wirklichkeit sind Adam und Eve ja auch elitär.
       Ava [Eves Schwester] sagt: „Ihr seid Snobs“, als sie von ihnen vor die Tür
       gesetzt wird …
       
       … „herablassende Arschlöcher“, schimpft sie … 
       
       Ja, und das sind sie. Sie werfen sie raus, nur weil sie sich wie ein Vampir
       verhalten hat. Sie sind Snobs. Aber ist das etwas Schlechtes? Wenn Sie und
       ich seit fünfhundert, tausend Jahren am Leben wären, stellen Sie sich vor,
       was wir alles wüssten! Die Sterblichen würden uns vorwerfen, dass wir so
       viel mehr wissen als sie. Und natürlich ist das so, ich lebe seit
       verdammten eintausend Jahren! Was glaubt ihr, was ich so mache? Ich habe
       Interessen, ich lerne! 
       
       Eine Figur, die Sie detailreich anlegen, ist Christopher Marlowe. Eine
       Theorie besagt, dass Marlowe der wahre Autor von Shakespeares Stücken und
       Gedichten ist. Ihr Film schließt sich dieser These an. Warum? 
       
       Oh, darüber könnte ich Ihnen viel zu viel erzählen. Es gibt viele Leute,
       die glauben, Shakespeare habe keine Zeile geschrieben, zum Beispiel Sigmund
       Freud, Orson Welles oder Henry James. Ich bin einer von ihnen. Die
       Akademiker nennen uns Anti-Stratfordianer. Es gibt kein einziges Manuskript
       in Shakespeares Handschrift. Wenn er so viel geschrieben hat, wie kann es
       sein, dass es überhaupt nichts gibt? Shakespeare war ein Analphabet und ein
       zweitklassiger Schauspieler. Viele glauben, der wahre Autor sei stattdessen
       Edward de Vere, der 17. Graf von Oxford. Das kann sein, es könnte auch eine
       Kombination sein. Marlowes Tod ist in jedem Fall eine Verschwörung. 
       
       Warum wollten Sie in Detroit drehen? 
       
       Weil es ein Juwel in der Geschichte der USA ist. Als Industriegebiet, aber
       auch auf dem Feld der Musik, speziell der populären Musik, hat die Stadt
       eine unendlich reiche Geschichte. Das amerikanische Imperium ist im
       Niedergang begriffen und hat eins seiner Juwelen aufgegeben. Es ist
       tragisch. Und ich liebe Detroit! In weniger als einem Jahrhundert, in sechs
       Jahrzehnten, ist es aufgeblüht … und dann … Es gab diese schöne Szene, die
       wir aus dem Film herausgenommen haben. Adam sagt: „Es ist wie auf einem
       Zeitrafferbild, auf dem man eine Blume knospen, wachsen und blühen sieht –
       und dann verwelken, sterben und verschwinden.“
       
       Aber es gibt auch die Szene, in der Eve sagt, in ein paar Jahrzehnten werde
       die Stadt wieder erblühen – dann, wenn in den Städten des Südens das Wasser
       zur Neige geht und die Menschen nach Norden ziehen. 
       
       Ja, aber das liegt daran, dass Eve nicht auf die sozioökonomische
       Perspektive beschränkt ist, die wir Menschen haben. Sie denkt im
       postapokalyptischen Maßstab, sie steht gewissermaßen über dem Lauf der
       Zeit. Wir mögen Zeit in Generationen messen, sie in Jahrhunderten.
       
       25 Dec 2013
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Cristina Nord
       
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