# taz.de -- Die EU und der Aufstieg der Populisten: In Brüssel brennt die Hütte
       
       > Deutschland, Frankreich und Belgien galten als Bollwerke gegen
       > Rechtspopulisten. Doch vor der Europawahl herrscht auch hier
       > Ausnahmezustand.
       
 (IMG) Bild: Die Gelbwesten setzten Frankreichs Präsident Macron massiv unter Druck
       
       BRÜSSEL taz | Der 16. Dezember wäre [1][beinahe in die EU-Geschichte
       eingegangen] – als Fanal. Nationalisten aus Flandern versuchten, die
       EU-Kommission zu stürmen. Sie konnten nur durch einen massiven
       Polizeieinsatz gestoppt werden. Der Sachschaden war gering, doch die
       politische Wirkung ist immens. Wenige Tage später reichte der belgische
       Premierminister Charles Michel seinen Rücktritt ein. Er war zum Opfer einer
       Kampagne der flämischen Rechten geworden.
       
       Kurz danach wurde bekannt, dass [2][sich Frankreichs Staatschef Emmanuel
       Macron] nur noch heimlich und geschminkt auf die Straße traut. „Er schminkt
       sich sogar die Hände“, zitiert die Tageszeitung Le Monde einen Abgeordneten
       der Regierungspartei. Bei einem seiner letzten Ausflüge in die Provinz
       hatten ihn „Gelbwesten“ zur Hölle gewünscht. „Wir wollen dich an die
       Guillotine bringen“, stand auf einer Puppe am Straßenrand. Seither hat
       Macron Angst vor seinem Volk.
       
       [3][Nicht viel besser] ist es um die britische Premierministerin Theresa
       May bestellt. Sie hat zwar einen Putschversuch aus den eigenen
       konservativen Reihen überstanden. Doch auch sie steht mit dem Rücken zur
       Wand. Der Brexit-Vertrag, den sie im November mit der EU ausgehandelt hat,
       findet keine Mehrheit im britischen Parlament. In ihrer Not versuchte May,
       noch Nachbesserungen zu erreichen. Doch die EU ließ sie abblitzen.
       
       Es sind drei Szenen einer Krise. In Brüssel, Paris und London herrscht der
       Ausnahmezustand. Michel, Macron und May – noch im Sommer standen diese
       Politiker für Stabilität, Macron galt sogar als Hoffnungsträger. Nun müssen
       sie mitansehen, wie sie zum Spielball von Nationalisten, [4][Populisten]
       und Putschisten geworden sind. Drei Monate vor dem Brexit und fünf Monate
       vor der Europawahl steht Westeuropa vor einem Scherbenhaufen.
       
       ## Vom Aufbruch Europas redet Merkel nicht mal mehr
       
       Nur Westeuropa? Natürlich nicht. In den USA hat die Krise schon viel früher
       begonnen – mit der Wahl von US-Präsident Donald Trump, vielleicht sogar
       schon mit dem 11. September 2001. In der EU waren es bisher vor allem
       Griechenland und Italien, die in den Abgrund geschaut haben. Doch nun sind
       auch Ungarn und Rumänien im Osten und Schweden im Norden in die Krise
       gerutscht. Selbst Deutschland ist nicht mehr so stabil wie früher.
       
       Seit der Bundestagswahl ist die „Macht in der Mitte“ (Herfried Münkler)
       vorwiegend mit sich selbst beschäftigt. Kanzlerin Angela Merkel (CDU) führt
       nicht mehr – nicht in Berlin und auch nicht in Brüssel. Sie wirkt wie eine
       Getriebene, die sich nur durch die Flucht aus dem Parteivorsitz aus der
       Schusslinie nehmen konnte. Vom „Aufbruch für Europa“, den sie sich von der
       SPD ins Regierungsprogramm diktieren ließ, redet Merkel nicht einmal mehr.
       
       Es wäre auch sinnlos – denn statt Aufbruch droht der Abbruch. Die
       EU-Politik liegt schon jetzt am Boden. Bei ihrem letzten Gipfeltreffen im
       Dezember haben es die 28 Staats- und Regierungschefs nicht einmal
       geschafft, ihre eigenen Reformversprechen einzulösen. Merkels
       „[5][europäische Lösung]“ für die Flüchtlingspolitik ist ebenso gescheitert
       wie Macrons Reform der Eurozone. Die EU geht mit leeren Händen in ihr
       Schicksalsjahr 2019.
       
       Dass die Krise nun auch Westeuropa erfasst hat, könnte sich als fatal
       erweisen. Denn bisher galten Deutschland, Frankreich und Belgien als
       Bollwerke gegen das Böse, das vor allem in Osteuropa verortet wurde. Viktor
       Orbán in Ungarn und Jarosław Kaczyński in Polen standen für all das,
       wogegen Macron und Merkel bei der Europawahl kämpfen wollten. Macron hat
       sogar versucht, sich zum Retter des liberalen und weltoffenen Europas zu
       stilisieren.
       
       ## Populismus ist nur ein Symptom
       
       Diese Pose wird er nun wohl ablegen müssen. Schließlich ist Macron selbst
       vor den „Gelbwesten“ zurückgewichen, die neben enttäuschten und empörten
       Bürgern auch rechte Populisten und Nationalisten in ihren Reihen zählen.
       Aber auch Merkel kann keine Lektionen mehr erteilen. Seit der deutsche
       Bundestag mehr rechtspopulistische Abgeordnete zählt als die französische
       Nationalversammlung, kann die Kanzlerin keine Sonderrolle mehr
       beanspruchen.
       
       Ist es also eine Art von „Normalisierung“, die wir in Deutschland,
       Frankreich und Belgien beobachten? Hat der Populismus neuerdings auch
       Westeuropa im Griff, wie zuvor schon Osteuropa? Ganz so einfach ist es
       nicht. Zum einen ist es ja nicht „normal“, wenn die Bürgerrechte und der
       Rechtsstaat ausgehebelt werden, wie im Osten, oder demokratisch gewählte
       Politiker fürchten müssen, aus dem Amt gejagt zu werden, wie neuerdings im
       Westen.
       
       Zum anderen ist das, was man leichtfertig „Populismus“ nennt, ja nur ein
       Symptom. Dahinter steht eine Systemkrise, die sich auch am Niedergang der
       politischen „Mitte“ und der Volksparteien ablesen lässt. Zwei Jahre nach
       der Wahl, die Trump ins Amt brachte, hat diese Krise nun auch Westeuropa
       erfasst. Eine Überraschung sollte das eigentlich nicht sein. Schließlich
       hat der Brexit ja schon vor Trump begonnen. Außerdem waren die Europäer
       hinreichend gewarnt.
       
       Die ersten populistischen Politiker in Westeuropa hießen nicht Marine Le
       Pen oder Nigel Farage, sondern Jörg Haider und Silvio Berlusconi. Ihre
       ersten Erfolge fuhren die Rechten nicht 2017 in Österreich und 2018 in
       Italien ein, sondern bei der Europawahl 2014. Damals wurde der
       rechtsextreme Front National zur stärksten Partei in Frank-reich. Auch in
       Holland trumpften die Rechten auf. Nun, fünf Jahre später, setzen sie zum
       Sturm auf die Macht an.
       
       ## Taub gegenüber den Feinden in ihrem Inneren
       
       Für die Europawahl im Mai verheißt das nichts Gutes. Rechtspopulisten und
       EU-Gegner könnten bis zu 30 Prozent der Sitze erobern. Selbst dass sie zur
       stärksten Kraft werden, scheint nicht mehr ausgeschlossen. Der italienische
       Lega-Chef, Matteo Salvini, träumt schon [6][von einer Allianz der Rechten],
       die die EU aus den Angeln heben soll. Ausgerechnet der frühere
       Trump-Berater Steve Bannon soll ihm dabei helfen. Das Europa-Projekt des
       ehemaligen Breitbart-News-Herausgebers heißt „The Movement“ und soll die
       europäische Rechte vereinen.
       
       Die EU hat dem nicht viel entgegenzusetzen. Beim Gipfeltreffen im Dezember
       hat sie eine Initiative gegen „Desinformation“ aus Russland beschlossen.
       Doch gegen die Feinde im Innern unternahm sie nichts. Dass die Macht
       verfällt und sogar Westeuropa zittert, ist im Brüsseler Europaviertel kein
       Thema. „Augen zu und durch“ lautet das Motto.
       
       Das musste auch Belgiens Premier Michel erfahren. Nach seinem Rücktritt
       wurde er vom König beauftragt, bis zur Wahl im Mai durchzuhalten – als Chef
       einer geschäftsführenden Regierung. Was für ein Symbol: Die etablierte
       Ordnung wankt, doch die Geschäfte gehen weiter, als wäre nichts geschehen.
       
       31 Dec 2018
       
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Eric Bonse
       
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