# taz.de -- Baseballschlägerjahre in Ostdeutschland: Sie waren nie weg
       
       > Die Akzeptanz, die es heute gegenüber rechten, rassistischen
       > Einstellungen gibt, ist den 1990er Jahren gesät worden. Jetzt profitiert
       > die AfD davon.
       
 (IMG) Bild: Das Schlimme: Der Straßenterror der 90er-Jahre hat den Boden für eine noch größere Gefahr bereitet
       
       Unter dem Stichwort „Baseballschlägerjahre“ entwickelte sich in den
       vergangenen Wochen in sozialen Netzwerken eine Debatte über die massive
       Gewalt von rechts in den 1990er Jahren. Ausgelöst hatte sie ein Beitrag des
       selbst im brandenburgischen Frankfurt (Oder) aufgewachsenen
       Zeit-Online-Journalisten Christian Bangel, [1][in dem erstmals nicht nur
       Expert:innen und Journalist:innen zu Wort kommen]. Sondern auch jene, die
       diese Gewalt, die sich wie ein brauner rassistischer Faden durch die 1990er
       Jahre zog, selbst erlebten und von ihr bis heute geprägt sind. Die
       Erfahrungsberichte im Internet sind beklemmend. Sie berichten von einer
       Gewalt, die erfuhr, wer als Jugendlicher oder Migrantin ins Feindbildraster
       rechter Gewalttäter geriet. Und von der Ignoranz der Gesellschaft, die von
       Angst und Gewalterfahrungen nichts hören wollte. [2][Dies ändert sich nun
       vielleicht]. Denn die gegenwärtige Debatte bietet die Chance, die noch
       immer weitgehend unerzählte rechtsextreme Gewaltgeschichte sichtbar zu
       machen.
       
       Wer [3][die „Baseballschlägerjahre“ verstehen will], muss auf den
       ostdeutschen Bahnhöfen jenseits der Metropolen die Augen auf die Wände der
       Toiletten und Wartehäuschen richten. Dort lassen sich manchmal die
       Botschaften nachlesen, die rechte Gewalttäter für die Betroffenen ihrer
       Gewalt hinterließen: „Zeckengift für undeutsche Ratten“, „Türkenfotzen
       kaputtgefickt“, „Christenviecher schlachten“. Oder, auf selbstklebendes
       Papier gedruckt: „Deutschland den Deutschen“, darunter Kameradschaft und
       Name der Stadt. Diese Botschaften lesen zu können, war und ist eine Frage
       der Wahrnehmung. Wie auch heute, gab es damals Menschen, die diese Schrift
       an der Wand nicht lasen, weil sie sie nicht sahen. Sie sahen sie nicht,
       weil sie nicht betroffen waren. Sie waren nicht betroffen, weil sie nicht
       zu den Feindgruppen der Gegner gehörten: Migranten, alternative Jugendliche
       oder engagierte Christen.
       
       Die Zeichen an den Wänden lesen zu können, war wichtig. Die Aufkleber und
       Tags gaben Auskunft darüber, ob man sich im Zentrum eines von rechten
       Schlägern dominierten Angstraums befand, aus dem Neonazis zu gern eine
       „national befreite Zone“ gemacht hätten. Wer als potenziell Betroffener
       rechter Gewalt lesen und die rechten Zeichen deuten konnte, war klar im
       Vorteil – und immer auf der Hut. Jeden Moment konnte eine rechte Gang um
       die Ecke biegen, die nicht zögerte, in die Tat umzusetzen, was die Tags und
       Spuckies ankündigten: brutale, oft hemmungslos entgrenzte Gewalt.
       
       Wer diese Erfahrung machte oder um solche Erfahrungen wusste, bewegte sich
       im öffentlichen Raum mit vorausschauender Vorsicht. Straßenbahnen zu
       bestimmten Uhrzeiten meiden, ganze Stadtviertel meiden oder, wenn nötig, so
       rasch wie möglich, aber nie zu Fuß durchqueren. So gelang es manchmal, den
       rechten Schlägern mit und ohne Baseballschläger auszuweichen. Wenn es aber
       doch kam wie befürchtet, dann war die erfahrene Gewalt nur das eine. Die
       einschüchternde Nachwirkung auch auf das persönliche Umfeld des oder der
       Betroffenen war das andere. Wer konnte, zog weg – in eine Stadt, wo die
       „Baseballjungs“ nicht so übermächtig waren. Wer konnte, gab sich ein
       unauffälliges Aussehen oder passte gar sein Outfit den Rechten an. Wer dies
       nicht konnte, weil er oder sie nicht weiß war, hatte Pech: Er oder sie
       konnte nicht einfach so ausgehen, sich frei durch die Stadt bewegen oder
       Zug fahren. Für die potenziell Betroffenen hieß dies, sich im öffentlichen
       Raum unsichtbar zu machen – ganz im Sinne der rechtsextremen Täter.
       
       So ist die Situation bis heute für jene, die sich aufgrund unveränderlicher
       äußerlicher Merkmale nicht unsichtbar machen können. Sie meiden an Montagen
       die Innenstadt von Dresden, weil sie wissen, welches Gewaltpotenzial im
       Pegida-Umfeld lauert. Und so ist das bis heute, wenn rechte Fans Stunden
       vor den Spielen ihrer Klubs in der Stadt Präsenz zeigen. Man weiß ja nie,
       was rechte Hooligans – die keine weltanschaulich gefestigten Neonazis sein
       müssen – tun, wenn sie nach zwei Bier eines „Negers“ oder einer „Zecke“
       ansichtig werden. Die Baseballschlägerjahre sind nicht vorbei für jene, die
       ins Feindbildraster der Rechten passen.
       
       Die Zeit der Springerstiefel und der Skinheads ist vorbei. Mit ihnen ist
       aber auch die Erkennbarkeit der Gefahr verschwunden. Früher war deutlich,
       wer „nur“ beleidigt und schimpft oder wer oftmals ohne ein Wort, aber klar
       in der Motivation, zuschlug. Diese Gewalt geht heute auch von Menschen aus,
       von denen es auf den ersten Blick niemand erwartet: Männer, Mitte 40, die
       erst pöbeln, schimpfen und dann [4][unvermittelt eine Frau mit Kopftuch
       ohrfeigen oder sie anspucken].
       
       Was ist aus [5][den Schlägern von damals] geworden? Jene, die als
       Gewaltakteure in den 1990ern agierten, sind heute erwachsen und Eltern
       geworden. Allzu sichtbare Bezüge zum Neonazismus sind verschwunden. Ihre
       rassistische Gesinnung aber ist geblieben. Diese geben sie an ihre Kinder
       und deren Umfeld weiter. Sie haben gelernt, sich öffentlich zurückzunehmen.
       Aber bei einem Elternabend, bei dem es um ein Schulfest mit Flüchtlingen
       geht, reden sie rassistischen Klartext.
       
       Die Schläger von damals wissen um ihre Vorstrafen. Lange waren sie
       öffentlich so gut wie unsichtbar. Aber seit den rassistischen
       Mobilisierungen nach 2015 sind sie wieder da, als seien sie nie weg
       gewesen. Auf den zahlreichen Bürgerversammlungen zum Thema Flucht und Asyl
       der Jahre 2015/16 bildeten sie den aktiven Rückhalt für Wortmeldungen, die
       im Namen „des Volkes“ die Unterbringung von Flüchtlingen ablehnten. Wer
       genau hinsah, konnte die kaum verhüllte habituelle Mischung aus
       Männlichkeitskult und Gewaltbereitschaft wiedererkennen – denn auch das
       Tragen von Gewalt ästhetisierenden Markenklamotten aus dem Kampfsportmilieu
       außerhalb des Sports kann ein Statement sein. Sie waren unter den ersten
       regelmäßigen Teilnehmern der Schneeberger Lichtelläufe 2013 und von Pegida
       in Dresden.
       
       Das Kernmilieu ist jederzeit erreichbar 
       
       Die Schläger von damals müssen nicht mehr selbst prügeln. Ihre Erfahrungen
       und ihre Feindbilder geben sie [6][im Milieu von rechtsdominierten
       Kampfsportvereinen und Firmen der Sicherheits- und Personenschutzbranche]
       weiter. Sie sind Inhaber von Tattoostudios oder stellen das Personal der
       Security bei einem Schlagerevent. Manche Größe der ostdeutschen
       Rockerszene hat eine gewalttätige Vergangenheit in den
       Baseballschlägerjahren und kann die damals erworbenen Fähigkeiten der
       Drohung und Einschüchterung heute gegenüber zwielichtigen Geschäftspartnern
       anwenden.
       
       In den ostdeutschen Fußballstadien stellen sie nicht mehr automatisch die
       Mehrheit der Anhängerschaft. Aber sie sind da, wenn es drauf ankommt, wie
       das Beispiel der Beerdigung des Chemnitzer Hooliganhäuptlings Thomas Haller
       zeigte, dem rechtsextreme Hools aus dem gesamten Osten ihre Referenz mit
       einem „Trauerzug“ erwiesen, den man getrost einen Aufmarsch rechter
       Gewalttäter nennen kann. Das Kernmilieu, aus dem die Schläger der 1990er
       Jahre kamen, ist für eine Mobilisierung von rechts außen jederzeit
       erreichbar, wenn bei ihnen der Eindruck entsteht, es ginge darum, „ihr“
       Deutschland zu verteidigen. Sie sind stolz auf alles, was aus dem Westen
       allzu verkürzt und unter Ausblendung des eigenen Anteils als
       „Dunkeldeutschland im Osten“ verstanden wird: Rassismus, Affinität zu
       Gewalt und die militante Ablehnung gesellschaftlicher Diversität.
       
       Das Feld für die normalisierende Akzeptanz, die es heute gegenüber rechten
       und rassistischen Einstellungen und Politikangeboten (nicht nur) im Osten
       gibt, ist den 1990er Jahren bereitet worden – einem Jahrzehnt der
       zeitweisen Hegemonie einer rechten Jugendkultur. Erst hat die NPD die Ernte
       dieser Saat eingefahren. Jetzt profitiert die AfD von der Normalisierung
       rechter Politikangebote. Wer bei den Demonstrationen 2018 in Chemnitz und
       Köthen genau hinsah, konnte es erkennen: Die Gewaltaffinität hat seit den
       1990er Jahren eine Kontinuität, die inzwischen nicht nur auf der Straße
       gelebt wird, sondern auch das Internet als Plattform nutzt. Die neue
       Generation rechter Gewalttäter:innen und ihre Sympathisant:innen ergehen
       sich in Internetforen in Fantasien eines aus ihrer Sicht herbeigesehnten
       rassistisch motivierten Bürgerkriegs, die sie mit Filmsequenzen von den
       ausländerfeindlichen Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen und
       Hoyerswerda bebildern.
       
       Die exzessive rechte Gewalt ist nicht vorbei. Sie ist, damals wie heute,
       eine Frage der gesellschaftlichen Wahrnehmung. Und zwar jenseits des
       Kreises der potenziell Betroffenen. Um ihre Stimme und ihre Sichtbarkeit
       geht es.
       
       2 Dec 2019
       
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