# taz.de -- 75 Jahre Auschwitz-Befreiung: Die letzten ZeugInnen
       
       > Anna Szałaśna, Marian Majerowicz und Bogdan Chrześciański waren als
       > Kinder im Todeslager Auschwitz. Dort haben sie unvorstellbares Grauen
       > erlebt.
       
       „Im Sommer 1944 war es so stickig in unserer Baracke im Frauenlager, dass
       ich kaum Luft bekam“, erzählt die 94-Jährige Auschwitz-Überlebende Anna
       Szałaśna. Auf ihrem linken Unterarm ist noch die eintätowierte Nummer zu
       sehen. „Ich rannte nach draußen, um frische Luft zu schnappen, und da sah
       ich bei den Krematorien vier- bis fünf Meter hohe Flammen hochschlagen.
       Dort verbrannten SS-Männer die ungarischen Juden. Das waren so viele, ein
       Transport nach dem anderen, dass die Gaskammern und Krematorien nicht mehr
       nachkamen.“
       
       Szałaśna fährt mit ihrem Rollstuhl näher an das halboffene Fenster in ihrer
       Warschauer Wohnung und nimmt einen tiefen Atemzug. „Damals“, sagt die
       katholische Polin, „damals trieb der Wind den Qualm direkt auf unsere
       Baracken zu. Es roch nach verbranntem Fleisch. Wochenlang trugen wir den
       Gestank dieses grauenhaften Todes in unseren Kleidern und Haaren. Ich war
       damals 17 Jahre alt. Das vergisst man nie wieder.“
       
       Marian Majerowicz schuftete im Sommer 1944 in einem Kohlebergwerk im
       Auschwitz-Nebenlager Guntengrube-Jaworzno. „Die Arbeit war so schwer, dass
       ich mir dabei einen Rückenschaden zugezogen habe“, erzählt der 94-jährige
       polnische Jude. „Dabei war ich eigentlich kräftig und muskulös – zumindest
       solange wir in Myszków in Oberschlesien lebten. Erst 1942, als die
       Deutschen das Getto Zawiercie einrichteten, verschlechterte sich unsere
       Situation dramatisch. Wir litten entsetzlichen Hunger.“ Als das Getto ein
       Jahr später aufgelöst wurde, musste auch Familie Majerowicz den Zug ins
       Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau besteigen.
       
       Zurück blieben zunächst rund 100 kräftige Jungen, die weiter Zwangsarbeit
       in Zawiercie leisten sollen – darunter auch der damals 15-jährige Marian.
       „Drei Monate später war ich dann aber auch in Birkenau“, erzählt er. „Da
       kam ein alter Mann auf mich zu und wollte mich begrüßen. Ich habe ihn nicht
       erkannt. Es war mein Vater.“ In der Warschauer Wohnung wird es langsam
       dunkel. Majerowicz macht Licht an, krempelt den Hemdsärmel hoch und deutet
       auf die eintätowierte Nummer 157715. „Zusammengezählt ergeben die Ziffern
       26 – mein Geburtsjahr. Mein Vater und ich haben die Nummer genauso
       gedeutet: Ich würde überleben.“
       
       Der Pole Bogdan Chrześciański war im Sommer 1944 noch gar nicht auf der
       Welt. Seine Eltern Henryka und Władysław hatten am 1. Januar 1944 in
       Warschau geheiratet. Sie wollten trotz Krieg und deutscher Besatzung ein
       möglichst normales Leben führen. Doch während des Warschauer Aufstands 1944
       gerieten sie zwischen die Fronten, wurden als „Widerstandskämpfer“
       verhaftet, weil jemand in ihrer Straße auf Deutsche geschossen haben
       sollte.
       
       Am 12. August 1944 wurden die Chrześciańskis und Tausende andere
       „politische Gefangene“ aus Warschau in Auschwitz registriert. „Ich kann
       mich natürlich an nichts erinnern“, erzählt der heute 75-jährige Katholik.
       „Meine Mutter war mit mir im fünften Monat schwanger. Ich kam am 7. Januar
       1945 zur Welt – im Frauenlager von Auschwitz-Birkenau, dem ehemaligen
       ‚Zigeunerlager‘.“ Er zieht ein paar Papiere aus einer dunkelblauen
       Dokumentenmappe: „Hier steht es schwarz auf weiß“, sagt er und deutet auf
       seine Geburtsurkunde. „Oświęcim – Auschwitz“. Bitter setzt er hinzu: „Drei
       Tage nach dem Tod meines Vaters. Erst waren meine Eltern noch zusammen.
       Dann wurden sie auf der Rampe in Auschwitz getrennt.
       
       Zehn Tage später haben sie meinen Vater ins KZ Natzweiler gebracht. Da
       musste er Schwerstarbeit leisten, bekam fast nichts zu essen und starb nach
       nur vier Monaten an Entkräftung.“ Er zuckt die Achseln. Heute könne er
       darüber reden. Aber als Kind und Jugendlicher habe er sich manchmal die
       Ohren zugehalten, wenn seine Mutter wieder von Auschwitz zu erzählen
       begann. „Noch schlimmer war das Mitleid der anderen Leute“, erzählt
       Chrześciański. „Ich wollte fröhlich sein wie alle Kinder. Doch wenn mich
       dann wieder dieser Auschwitz-Blick traf ‚Der arme Kleine!‘, hätte ich
       schreien können vor Wut und Enttäuschung.“
       
       Auschwitz und Auschwitz-Birkenau war das größte [1][nationalsozialistische
       Konzentrations- und Vernichtungslager] im deutsch besetzten Europa 1940 bis
       1945. Die Nazis ermordeten hier rund eine Million Juden aus fast ganz
       Europa, rund 70.000 ethnische Polen, 22.000 Sinti und Roma, 25.000
       Angehörige anderer Nationen sowie 15.000 Sowjetsoldaten. Unter den rund 1,3
       Millionen nach Auschwitz Verschleppten waren auch 232.000 Kinder und
       Jugendliche unter 18 Jahren.
       
       Die größte Gruppe stellten jüdische Kinder: 216.000, dann Sinti- und
       Roma-Kinder: rund 11.000, polnische Kinder: über 3.000 sowie über 1.000
       weißrussische, ukrainische und russische Kinder. Dabei hatten jüdische und
       Roma-Kinder in Auschwitz die geringsten Überlebenschancen. Schon bei der
       ersten Selektion an der Rampe nach der Ankunft mit dem Zug schicken
       SS-Ärzte sie oft allein, mit der Mutter oder auch mit der ganzen Familie
       nach links, was gleichbedeutend mit dem Tod war. Links befanden sich die
       Gaskammern. Wer nach rechts gehen durfte, galt in den Augen der SS als
       „arbeitsfähig“. Die Zwangsarbeit im Lager bot eine gewisse Chance, bis zum
       Kriegsende durchzuhalten und das Lager zu überleben.
       
       „Als der Krieg ausbrach, war ich ein 13-jähriges und ziemlich
       selbstbewusstes Mädchen“, erzählt Anna Szałaśna, oder Hanka, wie sie meist
       genannt wird. „Ich hatte in Toruń (Thorn) die Grundschule beendet, die
       Aufnahmeprüfung für das Gymnasium bestanden und freute mich schon auf die
       neue Schule.“ Kriegsgerüchte hielten sich hartnäckig. Schließlich holte
       Hankas Mutter die Tochter vorzeitig aus den Ferien in Rabka zurück.
       
       Der Vater hatte einen kriegswichtigen Posten bei der polnischen Bahn inne,
       die Mutter kümmerte sich um den Haushalt und die Erziehung der drei Kinder,
       der 18-jährige Bruder Roman war nach dem Abitur zum Armee-Hilfsdienst
       eingezogen worden, und der 17-jährige Adam, der Musiker werden wollte,
       nutzte die Ferien zum intensiven Geigenspiel. Auch Hanka war musikalisch
       veranlagt. Für sie stand im Wohnzimmer ein Flügel. „Es ging uns gut. Wir
       waren eine gutbürgerliche, patriotisch-polnische Familie“, so Szałaśna.
       
       Kurz nach Kriegsbeginn, am 3. September, kam ihr Vater aufgeregt nach
       Hause: ‚Ich bin abkommandiert nach Warschau. Kommt ihr mit? Oder wollt ihr
       hier bleiben?‘ Die Familie packte in Windeseile ein paar Sachen zusammen –
       für die kleine Hanka war der dunkelblaue neue Schulmantel am wichtigsten –
       und dann ging es schon nach Warschau.
       
       Sechs Tage waren sie unterwegs, da der Zug immer wieder anhalten musste.
       „Plötzlich hörten wir Pif-paff, pif-paff – unser Zug wurde beschossen.
       Jemand schrie ‚Feuer‘, wir sprangen aus dem Zug, und plötzlich spürte ich,
       wie mir etwas den Fuß wegriss. Eine Kugel hatte mir den Fußknöchel
       durchschlagen.“ Noch am Abend traf die Familie in Warschau ein. Ärzte
       bemühten sich wochenlang um die Rettung des Fußes, doch Fieber, Schmerzen
       und ein großer Blutverlust durch das Aufbrechen der Wunde ließen am Ende
       nur eine Lösung zu: die Amputation. „Ein halbes Jahr später wurde mir in
       Krakau eine damals hochmoderne und ‚mitwachsende‘ Prothese angepasst“,
       erzählt Szałaśna. „Sie hat mir später in Auschwitz das Leben gerettet! Ich
       konnte in ihr fast so gut laufen, als wäre es mein eigener Fuß.“
       
       Auch Marian Majerowicz ging 1939 noch zur Schule. „Ich war damals 13 Jahre
       alt und überlegte, was ich nach der jüdisch-religiösen Schule tun sollte“,
       erzählt er. „Einen Beruf ergreifen und erstes Geld verdienen? Oder doch
       weiterlernen?“ Marians Vater Boruch Chaskiel Majerowicz betrieb im
       oberschlesischen Myszków unweit der katholischen Pilgerstadt Tschenstochau
       eine gut gehende Schneiderwerkstatt, die Mutter Rifka kümmerte sich um den
       Haushalt und die drei Kinder.
       
       „Wir waren damals eine relativ typische jüdische Familie“, so Majerowicz.
       „Wir lebten in einfachen Verhältnissen, aber es reichte zum Leben. Niemand
       beklagte sich.“ In Myszków lebten in der Zwischenkriegszeit knapp 600
       Juden. Sie stellten etwa ein Drittel der Einwohner. Kurz nach dem
       Einmarsch, noch im Herbst 1939, verbrannten die Deutschen die Synagoge in
       dem kleinen Ort, verhöhnten die Juden vor den Augen der Polen und sorgten
       für deren zunehmende Verelendung.
       
       ## Tägliche „Selektionen“ in Auschwitz
       
       Im Februar 1942 deportierten sie die Myszkówer Juden zunächst in das knapp
       15 Kilometer entfernt liegendes Getto Zawiercie und wenig später von dort
       ins Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. „Meine Mutter hatte sich nicht
       von ihrem dreijährigen Sohn trennen wollen. So wurden beide direkt nach der
       Ankunft ‚zum Duschen‘ in die Gaskammer geschickt“, erzählt Majerowicz
       stockend. „Mein älterer Bruder wurde zur Zwangsarbeit ins Deutsche Reich
       geschickt, was ihm letztlich das Leben gerettet hat.
       
       In Auschwitz aber wurden täglich Selektionen durchgeführt. Irgendwann traf
       es meinen Vater.“ Majerowicz holt kurz eine Flasche Wasser aus der Küche,
       bevor er weitererzählt: „Ich habe dann meine Tagesration Essen gegen zwei
       Zigaretten getauscht. Mein Vater und ich – wir haben uns an eine
       Holzbaracke angelehnt und Abschied voneinander genommen. Er rauchte noch
       die Zigaretten. Dann, am nächsten Tag, ging er vor meinen Augen in die
       Gaskammer.“
       
       Bogdan Chrześciański war als Erwachsener mehrmals in der Gedenkstätte
       Auschwitz-Birkenau, um die Baracke zu finden, in der seine Mutter nur knapp
       einer Operation des [2][SS-Arztes Josef Mengele] entkam, und die andere, in
       der er geboren wurde. „Aber es steht nichts mehr. Das heißt, unweit vom
       Französischen Tor gibt es noch eine Holzbaracke, in der Mütter und ihre
       Säuglinge zu Tode gespritzt wurden. Links davon, zwischen zwei
       Ziegelstein-Baracken, steht noch eine Gedenktafel für die
       Kinder-Experimentier-Baracke von Mengele, und dann ein paar Reihen weiter
       die sogenannte Kinderbaracke mit den bunten Wänden“.
       
       Er zuckt mit den Achseln. „Ich wurde ja im ehemaligen ‚Zigeunerlager‘
       geboren, also nicht links vom Haupttor aus gesehen, sondern rechts davon.
       Da sieht man nur noch ein paar Schornsteine in den Himmel ragen, vielleicht
       noch ein paar Fundamente im Boden. Und das ist es dann auch schon“.
       Allerdings sei seine Mutter erst später dorthin verlegt worden. Es sei also
       durchaus denkbar, dass die Operation in der später liquidierten Baracke
       stattfinden sollte.
       
       „Man brauchte auch Glück, um zu überleben. Meine Mutter lag wohl schon auf
       dem Operationstisch, ein erster Schnitt war getan, als ein Deutscher
       schreiend meldete,Russische Bomber!'. Die SS-Männer rannten in ihre Bunker
       und ließen meine Mutter liegen. Als sie völlig benommen aufstand, half ihr
       eine Mitgefangene, die Wunde zu verbinden. Dann floh sie zurück in ihre
       Baracke, und Mengele vergaß sie.“ Was für ein Experiment Mengele hatte
       durchführen wollen, konnte er nicht herausfinden.
       
       Für einen Moment hängt Chrześciański seinen Gedanken nach, blättert in den
       Dokumenten: „Nach dem Krieg war ich lange Zeit ein kränkelndes Kind. Dann
       zog mich manchmal mein Großvater auf: ‚Du hattest sieben Mütter. Du musst
       groß und stark werden‘. Ich lachte dann, bis mir nach ein paar Jahren
       aufging, dass die anderen Mütter mir ja nur deshalb ihre Milch geben
       konnten, weil sie Totgeburten erlitten hatten.“ Er seufzt. „Ohne den Tod
       dieser Säuglinge wäre ich heute nicht am Leben. So ist das.“
       
       ## Kinder in Auschwitz
       
       Das Schicksal der Kinder und Jugendlichen im Konzentrations- und
       Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau unterschied sich grundsätzlich nicht
       von dem der Erwachsenen. Die Nazis hatten sich in ihrem Rassenwahn die
       Ausrottung zweier Völker zum Ziel gesetzt, der Juden und der Roma. Neben
       einem gigantischen Nazi-Konzentrationslagersystem, in dem vor allem die
       Arbeitskraft von Gefangenen ausgebeutet werden sollte, entstanden auch
       Vernichtungslager oder -zentren, wo Juden und Roma geradezu industriell
       ermordet und eingeäschert wurden. Auschwitz-Birkenau ist nur eines dieser
       NS-Vernichtungslager im deutsch besetzten Europa. Bei den sogenannten
       Selektionen wurden Kinder häufig als erstes für den Tod bestimmt, Mütter
       mit kleinen Kindern, Schwangere, Kranke und Alte.
       
       In Auschwitz-Birkenau gab es zwei Ausnahmen von dieser Regel: für jeweils
       ein bestimmte Zeit gab es ein ‚Zigeunerlager‘ für Roma-Familien sowie ein
       Familienlager für die Juden aus dem Getto Theresienstadt in der damaligen
       Tschechoslowakei. Hier wurden Eltern und Kinder nicht getrennt, bekamen
       etwas besseres Essen als die übrigen Häftlinge und konnten sogar Postkarten
       nach Hause schreiben. Als nach einigen Monaten die Propagandafunktion
       gegenüber der Weltöffentlichkeit erfüllt war, wurden beide Lager
       „liquidiert“ und Erwachsenen wie Kinder vergast.
       
       Polnische Kinder wie auch die anderer Nationalitäten wurden von der SS
       nicht systematisch ermordet, starben aber auch oft schnell: Hunger, Kälte,
       fatale hygienische Verhältnisse und Krankheiten forderten ihren Tribut.
       Dazu kamen grausame medizinische Experimente, die SS-Ärzte vor allem an
       eineiigen Zwillingen, Kleinwüchsigen und Schwangeren durchführten.
       
       Als die 1. Ukrainische Front der Roten Armee am 27. Januar 1945 das KZ und
       Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau befreite, trafen die Soldaten nur noch
       rund 7.000 kranke und völlig entkräftete Häftlinge an. Darunter waren rund
       700 zumeist ausgemergelte Kinder und Jugendliche. Viele benötigten eine
       sofortige ärztliche Behandlung. Zudem musste man die Kinder, ähnlich wie
       auch die Erwachsenen, ganz allmählich wieder an etwas größere
       Essensportionen gewöhnen.
       
       ## Das Leben nach dem KZ
       
       „Ich dachte eigentlich die ganze Zeit, dass der Krieg bald vorbei sein
       würde. Ich wollte wieder in die Schule gehen, Klavierunterricht nehmen und
       meinen Bruder beim Geigenspiel begleiten. Als mein älterer Bruder
       interniert wurde, schrieb ich ihm zum Trost eben auch diesen Satz vom
       baldigen Kriegsende“, erzählt Szałaśna und lacht über sich selbst. „Das hat
       dann irgendsoein übereifriger Gestapo-Mensch gelesen und mich ins Gefängnis
       von Tarnów bringen lassen. Als ich beim Verhör nicht das sagte, was er
       hören wollte, schlug er mir so brutal ins Gesicht, dass ich ohnmächtig
       wurde.“ Sie fährt mit ihrem Rollstuhl vor und zurück, scheint die Szene
       noch einmal nach zu empfinden.
       
       „Ich habe dann völlig verstockt kein einziges Wort mehr gesagt. Und dafür
       hat mich dann dieser Gestapo-Mensch nach Auschwitz geschickt – ein
       15-jähriges Mädchen, das angeblich eine gefährliche Widerstandskämpferin
       sein sollte.“ Als 1944 Züge von Auschwitz ins Deutsche Reich fahren, meldet
       sich Szałaśna freiwillig für die Zwangsarbeit bei Siemens im Frauen-KZ
       Ravensbrück. „Als wir Auschwitzerinnen in Ravensbrück ankamen, trauten wir
       unseren Augen nicht – es gab Schränkchen für unsere Schüsseln.
       
       Aber das Beste waren die Pritschen. Es gab Bettzeug in blau karierten
       Bezügen!“ Allerdings wurde die Situation gegen Kriegsende hin immer
       desolater. Es fehlte an Essen. Chaos brach aus. „Als wir endlich befreit
       wurden, nahm ich das Angebot der schwedischen Roten Kreuzes an, ging mit
       nach Schweden und lernte dort wieder, ein normales Leben zu führen.“ Zurück
       in Polen machte Szałaśna das Abitur nach, studierte Musik und wurde eine
       der bekanntesten Ethno-Musikologinnen Polens.
       
       Marian Majerowicz sieht ungeduldig auf die Uhr. Er will noch etwas
       erledigen. Doch dann erzählt er seine Geschichte doch noch zu Ende: „Als
       die Nazis am 18. Januar 1945 das Lager Auschwitz-Birkenau mit all seinen
       Nebenlagern auflösten, wurden wir in Guntengrube-Jaworzno nicht etwa
       freigelassen. Vielmehr mussten wir in die metallenen Kohleloren steigen und
       wurden bei Eiseskälte zurück nach Auschwitz transportiert.“ Dort warteten
       schon andere Häftlinge. Als es 1.200 waren, trieben SS-Männer die Kolonne
       nach Westen ins Deutsche Reich. „Das Wichtigste waren jetzt richtig gute
       Stiefel. Wer sich die vor dem Abmarsch in Auschwitz nicht noch besorgt
       hatte, war verloren. Fünf Monate trieben die SS-Männer uns vor sich her.
       Erst am 8. Mai 1945 wurden wir befreit. Das war kurz vor Prag. Von den
       1.200 Mann lebten nur noch 160.“
       
       Nach dem Krieg habe ihn ein Freund nach Kłodzko eingeladen, ins ehemals
       deutsche Glatz. Dort blieb er. „Erst habe ich als Koch gearbeitet, später
       Karriere beim Militär gemacht“. Er legt das hellblau gestreifte
       Häftlingshalstuch sorgfältig auf die Seite. In ein paar Tagen schon, am 27.
       Januar, wird er es wieder tragen – so wie an jedem Jahrestag der Befreiung
       von Auschwitz.
       
       „Die Gedenkstätte fragte mich, ob ich am 27. Januar öffentlich reden
       wolle“, setzt der 94-Jährige Majerowicz noch hinzu. „Aber ich kann das
       nicht. Auschwitz – das ist doch der Friedhof von meinen Eltern, meinem
       kleinen Bruder und überhaupt von meinem Volk.“
       
       Wie das Gedenken aussehen solle, wenn in wenigen Jahren niemand von den
       Zeitzeugen mehr lebe, wisse er nicht. „Wir haben sehr oft Zeugnis abgelegt
       – fürs Fernsehen, fürs Radio und für die Presse. Wenn es uns einmal nicht
       mehr geben sollte, müssen diese Dokumente eben reichen. Das ist unser
       Vermächtnis.“
       
       26 Jan 2020
       
       ## LINKS
       
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       ## AUTOREN
       
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