# taz.de -- Ausstellung im Jüdischen Museum Berlin: Von Karl Marx bis Amy Winehouse
       
       > Die neue Dauerausstellung im Jüdischen Museum Berlin zeigt das
       > Unerwartete und ist keine Geschichtsstunde im herkömmlichen Sinn. Ein
       > Rundgang.
       
 (IMG) Bild: Die „Hall of Fame“ mit Installationen von Andree Volkmann in der neuen Dauerausstellung
       
       Der stilisierte Granatapfelbaum ganz am Anfang der Ausstellung, dort, wo
       man an den Ästen auf kleinen Karten seine Wünsche hinterlassen kann, er
       steht noch. Und auch der gezackte Bau von Daniel Libeskind ist natürlich
       derselbe geblieben. Die Dauerausstellung des Jüdischen Museums in Berlin
       aber haben die Kuratoren so sehr umgestaltet, dass man mit Fug und Recht
       von einem neuen Museum sprechen kann. Eine neue Schau ist es ganz gewiss.
       
       Der Auftrag ist derselbe geblieben. „Jüdische Geschichte und Gegenwart“
       lautet das Thema. „Die Geschichte hat sich nicht geändert – aber unsere
       Perspektive darauf“, schreibt die neue Direktorin Hetty Berg zur
       Premiere. Jüdisches Leben in Deutschland habe sich weiterentwickelt. Aber
       auch der Antisemitismus, früher nur hinter vorgehaltener Hand geäußert, sei
       gesellschaftsfähiger geworden, sagt sie zur Eröffnung. Auf diese
       Entwicklungen gelte es einzugehen.
       
       Nun ist es nicht so, dass das Museum selbst in jüngster Zeit von erregten
       Debatten verschont geblieben wäre. Eine mehr als missverständliche
       Pressemitteilung, eine umstrittene Jerusalem-Sonderschau, Vorwürfe, das
       Museum lade die falschen Leute ein und bediene israelfeindliche Klischees,
       am Ende der Rücktritt eines Direktors und kritische Worte aus dem
       Zentralrat der Juden: [1][Das Museum hat stürmische Zeiten hinter sich.]
       
       Aber nichts wäre falscher, als die neue Ausstellung unter dem Blickwinkel
       dieser Kontroverse zu betrachten, gar nachzählen zu wollen, wie häufig
       Theodor Herzl genannt wird (mehrfach) und wie viele Quadratmeter der
       Staat Israel erhalten hat (ausreichend). Es ist Wagnis genug, die
       Geschichte der deutschen Juden zwischen die Mauern des Libeskind-Baus zu
       pressen, der deutschen Juden, wohlgemerkt, und nicht des Weltjudentums,
       Israels oder gar des Antisemitismus. Schon die alte Schau war in dieser
       Hinsicht spannend. Und die neue?
       
       ## Thora und gerupftes Huhn
       
       Die beginnt, wunderbar und doch konventionell, mit dem religiösen Leben,
       dargestellt durch eine in einem zylindrischen Glaskörper eingeschlossene
       Thora, angeschlossen eine interaktive Station über das hebräische Alphabet.
       Nur ein paar Schritte weiter allerdings kann man eine täuschend echte
       Nachbildung eines gerupften Huhns in die Hand nehmen. Es geht hier um die
       Speisegesetze (Kaschrut), und das Huhn dient als Beispiel dafür, was zum
       Verzehr erlaubt ist. Das ist nicht banal und mehr als nur ein Spaß, denn
       dieses Museum hat es darauf abgesehen, gerade die Jüngeren zu begeistern.
       
       Die jüdische und die deutsche Geschichte werden chronologisch erzählt,
       beginnend mit Mittelalter und früher Neuzeit, unter Präsentation
       großartiger Exponate, die meist der eigenen Sammlung entstammen. Doch diese
       Erzählung wird nun durch etwas unterbrochen, was Museumsmenschen kalt
       Themenblöcke nennen, aber ganz warm auf den Besucher einwirkt: klingende
       Nischen etwa, verborgen hinter dünnen Metallvorhängen, in denen der Schofar
       tönt, Klezmer, israelischer Pop oder Musik der 1920er Jahre.
       
       Immer wieder unterbrechen solche Installationen irritierend den Gang durch
       die Jahrhunderte, darunter Kunstwerke wie Anselm Kiefers „Bruch der Gefäße“
       zur Kabbala oder eine Sammlung von Familienalben mit Objekten. Hinter fast
       jeder Ecke auf dem verschlungenen Weg der Ausstellung lauert eine
       Überraschung. Nicht alles scheint drum herum gelungen, etwa Frédéric
       Brenners auf dem Bauch liegender nackter Mann, der eher ratlos macht als
       zur Aufklärung beiträgt.
       
       ## Koschere Gummibärchen
       
       Oder die jüdischen Persönlichkeiten von Karl Marx bis Amy Winehouse
       gewidmete „Hall of Fame“, die als enges Treppenhaus daherkommt – immerhin
       mit einem Automaten, wo man koschere Gummibärchen ziehen kann.
       
       Die Ausstellung gibt sich zugleich aufgeräumter und prägnanter. Das
       Überladene der alten Schau ist verschwunden, die Linien sind klarer, das
       Layout ist deutlich und an die Architektur angepasst. Zugleich haben die
       rund 20 Kuratoren unter Leitung von Cilly Kugelmann entschlossen
       Schwerpunkte gesetzt. Manches musste dabei verkleinert werden, etwa wenn es
       um frühe Neuzeit und Aufklärung geht. Das ist bedauerlich.
       
       Aber auch 3.599 Quadratmeter Fläche sind endlich, wie die
       Aufnahmefähigkeit des Publikums begrenzt ist. Wesentlich mehr Raum als
       zuvor nehmen nun vor allem zwei Kapitel ein: die „Katastrophe“, also
       [2][die Entrechtung und Ermordung im Nationalsozialismus], und „Nach 1945“.
       Das ist ein Statement, gerade heute.
       
       „Dir Werner Liebenthal“ steht auf einem blechernen Schild. Links daneben
       sind die Worte „Preußisches Notariat“, darüber „Notariat“ und darunter
       „Rechtsanwalt“ fett durchgestrichen. Mit diesem nur scheinbar unscheinbaren
       Signet betritt man die Räume, die dem Holocaust und seiner Vorgeschichte
       gewidmet sind. Werner Liebenthal erhielt 1933 Berufsverbot, er entkam den
       Nazis 1939 durch seine Auswanderung ins damalige Palästina.
       
       In einer Vitrine sind Fotos immer gleicher Schilder aus unterschiedlichen
       Gemeinden Deutschlands ausgestellt: „Juden sind hier unerwünscht“ lautet
       die Aufschrift. Daneben hängen in Streifen von der Decke herab Beispiele
       für die Hunderte Verordnungen und Gesetze, mit denen die
       Nationalsozialisten danach trachteten, die Juden aus der Gesellschaft
       auszuschließen, sie zu brandmarken und ihre Existenz zu zerstören.
       
       ## Nackte Ziffern
       
       Das Jüdische Museum will kein Holocaustmuseum sein, aber [3][natürlich muss
       der Holocaust hier eine zentrale Rolle spielen]. Das tut er, aber auf eine
       andere Weise als üblich: kein Bild von ermordeten, zu Bergen
       aufgeschichteten Menschen, kein Stacheldraht und keine Darstellung der
       Vernichtungslager: Die Ausstellung zeigt grafisch aufbereitet nackte
       Ziffern, nennt die Zahl derer, die rechtzeitig entkommen konnten, und
       jener, denen dies nicht gelang.
       
       Das setzt sich fort in der Abteilung über die Jahre nach 1945, eine Zeit,
       als kaum ein Mensch und schon gar kein jüdischer Mensch daran glauben
       wollte oder konnte, [4][dass jüdisches Leben in Deutschland jemals wieder
       denkbar sein könnte]. Da steht man vor einer ganzen Wand mit den ID-Karten
       Überlebender aus den Konzentrationslagern, da zeigt ein übergroßes Fotos
       die in Regalfächern liegenden Antragsmappen auf finanzielle Entschädigungen
       der überlebenden Opfer. Sie lagen lange dort, verflucht lange.
       
       Ein Flamencokleid in leuchtenden Farben begrüßt den Besucher in einem
       Raum, der der Frage nachgeht, was eigentlich ein jüdisches Objekt sei. Das
       Kleid ist es durch seine Besitzer geworden: Sylvin Rubinstein und seine
       Schwester tourten bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs als gefeierte
       Flamencostars durch Europa. Bei Kriegsbeginn waren sie in Polen und wurden
       ins Warschauer Getto deportiert. Beide gingen in den Untergrund, doch nur
       der Bruder überlebte und kaufte nach dem Krieg in Erinnerung an seine
       Schwester dieses Kleid.
       
       Dass es ein Leben jenseits von Todesdrohungen und Judenhass gibt, [5][dass
       Judentum wieder in diesem Land existiert und wie vielschichtig es ist],
       erfährt man in diesem letzten Kapitel, das mit einer großartigen
       Videoinstallation endet: Auf 21 Monitoren berichten Menschen über ihr
       Jüdischsein in Deutschland. Sie sprechen über ihre Hobbys, Berufe, Wünsche
       und was es bedeutet, ein Jude zu sein. Erst einzeln, dann ineinander
       übergehend, schließlich in einem vielstimmigen Chor. Mesubin (die
       Versammelten) haben Yael Reuveny und Clemens Walter ihre Arbeit genannt. Es
       ist eine Demonstration gegen jedes Klischee. Jüdisches Leben? Hier ist es.
       
       23 Aug 2020
       
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       ## AUTOREN
       
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