# taz.de -- 80 Jahre Wannsee-Konferenz: Vom Wannsee nach Charlottesville
       
       > Was geschah wirklich? Wie ist der aktuelle Umgang mit der NS-Geschichte?
       > Eine Tagung in der Villa Wannsee spannt den Bogen zwischen diesen Fragen.
       
 (IMG) Bild: Die Villa Wannsee beherbergte bis Ende der 1980er Jahre ein Kinderheim des Berliner Bezirks Neukölln
       
       Was bleibt?“, so lautete der Titel einer internationalen dreitägigen
       Tagung, zu der die Gedenk- und Bildungsstätte Haus der
       [1][Wannsee-Konferenz anlässlich des 80. Jahrestags des berüchtigten
       Treffens] geladen hatte. Bevor diese Fragestellung beantwortet werden kann,
       sollte freilich zunächst einmal geklärt werden, was damals überhaupt
       geschehen ist.
       
       Eines jedenfalls nicht: In Fachkreisen ist schon seit Jahrzehnten Konsens,
       dass dort eben nicht die „Endlösung“, also die Ermordung aller europäischen
       Juden im deutschen Einflussbereich beschlossen wurde. Dennoch bleibt diese
       falsche Interpretation bis heute lebendig – auch unter Besuchern der
       Gedenkstätte.
       
       Diese führt auch zu einer überhöhten Projektion des Ereignisses. War das
       historische Ereignis am Ende also gar nicht so schlimm, wenn sie erfahren,
       dass es um die Organisation des Mordes an bis zu elf Millionen Juden ging?
       Das ist eine Frage, die sich an die Museumspädagogik richtet.
       
       Aber ist die These von der Planung des Holocaust auf der Wannsee-Konferenz
       überhaupt so richtig? [2][Dan Diner] stellte diese Frage aller Fragen
       gleich zu Beginn der Berliner Tagung. Und der emeritierte Historiker
       verwies dabei auf einen auch schon dreißig Jahre alten Aufsatz des
       verstorbenen Eberhard Jäckel. Tatsache ist: Es gab vor 80 Jahren im Haus am
       Wannsee keinen förmlichen Beschluss.
       
       ## Holocaust wurde schon früher eingeleitet
       
       Der Massenmord an den Juden war Monate zuvor in Gang gesetzt worden,
       insbesondere durch die Einsatzgruppen in der Sowjetunion, die dort bereits
       Hunderttausende erschossen hatten. Die Planungen für die Vernichtungslager
       Treblinka, Sobibor und Belzec im Osten des besetzten Polen liefen. In
       Chełmno waren die ersten Gaswagen im Einsatz.
       
       Deutschen Juden war im Herbst 1941 nicht nur die so lange propagierte und
       erzwungene Auswanderung verboten worden, die ersten Transporte aus
       deutschen Großstädten hatten das Reich bereits in Richtung Łódź, Riga und
       Minsk verlassen, mehr als eintausend Berliner Juden waren nahe Riga bei
       ihrer Ankunft erschossen worden, ganz zu schweigen von den Tausenden
       einheimischen Juden, die die SS im Ghetto der Stadt zuvor ermordet hatte.
       
       Wozu bedurfte es da noch einer Konferenz, noch dazu angesichts der
       Tatsache, dass diese offenbar gar nicht so eilbedürftig war, hatte man sie
       doch ursprünglich schon für den Dezember 1941 vorgesehen?
       
       Die Antwort, so Jäckel damals und Diner heute, fände sich in der Person
       desjenigen, der zu der Tagung eingeladen hatte: Reinhard Heydrich. Schon im
       Sommer 1941 war der Chef der Sicherheitspolizei und des SD dazu ernannt
       worden, eine „Gesamtlösung der Judenfrage vorzubereiten“.
       
       ## „Vermählung von Ideologie und Bürokratie“
       
       Angesichts der notorischen Kompetenzstreitigkeiten und Eifersüchteleien
       innerhalb der NS-Elite wie der Ministerialbürokratie sei es am Großen
       Wannsee darum gegangen, diese Bestallung Heydrichs gegenüber denjenigen
       Machteliten deutlich zu machen, die schon zuvor zentral an der
       Drangsalierung der Minderheit mitgewirkt hatten.
       
       Bei der Wannsee-Konferenz, so Dan Diner, handelte es sich um eine
       „Vermählung von Ideologie und Bürokratie“. Der ideologisch begründete
       Judenmord musste mithilfe der Bürokratie umgesetzt werden. Die ganze
       Konferenz aber diente als „choreographierte Inszenierung“ der verdeckten
       Mitteilung an die im Protokoll „Zentralinstanzen“ genannten staatlichen
       Institutionen: Reinhard Heydrich besaß im Prozess dieses nie dagewesenen
       Massenmords die „Federführung“.
       
       Die Dimension dieses Verbrechens ist heute unstrittig. Die lange
       Nachkriegsgeschichte bis zur Errichtung der Gedenkstätte an diesem Täterort
       verdeutlicht zugleich, wie wenig der Holocaust in den ersten Jahrzehnten
       der Bundesrepublik thematisiert worden ist – die Villa am Wannsee
       beherbergte noch bis zum Ende der 1980er Jahre ein Kinderheim des Berliner
       Bezirks Neukölln, und groß waren die Widerstände, als es darum ging, dort
       einen Ort des Erinnerns einzurichten.
       
       Noch bis zu Beginn der 1960er Jahre blieb das Protokoll der
       WannseeKonferenz in der Öffentlichkeit weitgehend unbeachtet, keiner der
       damaligen Täter mit Ausnahme von Adolf Eichmann musste sich vor Gericht
       wegen der Teilnahme an der Tagung verantworten – ein „Justizversagen“
       nannte das der Historiker Norbert Frei.
       
       ## Künftige Stärkung der Gedenkstätten
       
       Mit Beifall wurde deshalb die Erklärung von [3][Kulturstaatsministerin
       Claudia Roth] (Die Grünen) aufgenommen, in der sie eine Stärkung der
       Gedenkstätten und Erinnerungsinitiativen ankündigte. Erinnern beschränke
       sich nicht auf Zuschauen, sondern bedeute, Zukunft zu gestalten, sagte Roth
       in einem Grußwort an die Tagung. Gedenkstätten seien Teil der kulturellen
       Landkarte Deutschlands und bedeutende Orte des Lernens.
       
       Wie aber mit der Geschichte umgehen? Solle es bei der Analyse des damaligen
       Geschehens bleiben oder zwingen die rechtsradikalen Tendenzen in der
       heutigen Gesellschaft nicht gerade dazu, Erinnern auch als Aufgabe der
       Auseinandersetzung mit dem Heute zu begreifen? Die designierte
       Antisemitismus-Beauftragte von US-Präsident Biden, Deborah Lipstadt,
       vertrat da eine eindeutige Position: Haltung zeigen!
       
       Lipstadt rief zunächst die verdeckte Sprache ins Gedächtnis, die die Täter
       von 1942 verwendet hatten: „Evakuierung“ stand für die Deportation,
       „Endlösung“ benannte den Massenmord selbst. Und sie zeigte an zwei
       Beispielen auf, dass diese Tarnung der Begriffe bis heute zum Handwerkszeug
       der Antisemiten zählt.
       
       Im Jahr 2000, als [4][Lipstadt von David Irving wegen Beleidigung und übler
       Nachrede verklagt] wurde, weil sie diesen einen Holocaustleugner genannt
       hatte, konnte sie nachweisen, dass Irving als Geschichtsfälscher und
       Antisemit bezeichnet werden kann.
       
       ## Antisemitische Begrifflichkeiten
       
       Schon damals spielten unangebrachte Vergleiche eine große Rolle. Irving
       argumentierte etwa, dass in Auschwitz weit weniger Menschen ums Leben
       gekommen seien, und überhöhte dafür die Zahl der Opfer beim Angriff der
       Alliierten auf Dresden 1945. Sein Ziel war es, den Mord an den Juden zu
       minimieren.
       
       Nicht viel anders gestaltete es sich 17 Jahre später in
       [5][Charlottesville, als Rechtsextremisten unter dem Motto „Unite the
       Right“] zusammen kamen. Ihre wahren Ziele verschleierten sie, so Lipstadt.
       Schon im Vorfeld hätten die Organisatoren angeordnet, auf Hakenkreuzflaggen
       zu verzichten. Aus dem Ruf „Jews will not replace us“ machten die Anhänger
       der Lüge vom „großen Austausch“ „You will not replace us“, um in der
       Öffentlichkeit einen gemäßigteren Eindruck zu vermitteln.
       
       Deborah Hartmann, die Leiterin der Gedenkstätte am Wannsee, machte
       deutlich, dass gerade die Berücksichtigung heutiger neonazistischer
       Tendenzen bei der Vermittlung dessen, was damals geschah, auf großen
       Zuspruch bei der jüngeren Generation stoße.
       
       Womit wir bei Vergleichen angelangt wären, einem Thema, das trotz oder
       gerade aufgrund der unerhörten Dimension des Holocaust immer wieder zur
       Sprache kommt: von rechts, um Taten der Nazis zu minimieren und Juden als
       Profiteure ihrer eigenen Vernichtung abzuqualifizieren, von links, um
       Israel zu brandmarken, und von Genozidforschern, um eine
       [6][Kontinuitätslinie zwischen Kolonialismus und NS-Herrschaft] zu ziehen.
       
       ## Kolonialismus-Vergleiche
       
       Gegen solche Vergleiche sei an sich nichts einzuwenden, meinte Dan Diner,
       solange die richtigen Vergleiche gezogen und nicht Unvergleichliches
       verglichen würde. Deutlicher wurde Sybille Steinbacher vom Fritz Bauer
       Institut in Frankfurt, die die These von der kolonialen Gewalt als
       Vorgeschichte des Holocaust vehement zurückwies. Diese „monokausalen
       Deutungen“ ohne Berücksichtigung anderer Faktoren, in der die
       Holocaustforscher provinzialisiert werden, gingen fehl.
       
       Denn weder fänden sich unter den NS-Massenmördern bis auf wenige Ausnahmen
       solche mit Kolonialerfahrung noch spielte der Kolonialismus im
       NS-Machtapparat mehr als eine randständige Bedeutung. Im Gegenteil habe der
       Nationalsozialismus mit Traditionen, darunter kolonialen Vorstellungen,
       gebrochen.
       
       Steinbachers Fazit: Es ist schon richtig, den Holocaust in die
       Gewaltgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts einzuordnen – aber es gebe
       beim Judenmord eben doch „einmalige Besonderheiten“. Die Singularität des
       NS-Verbrechens hieße nicht, Vergleiche zu verbieten. Aber der Holocaust mit
       seiner schrankenlosen Gewalt, dem Willen, eine Welt ohne Juden zu
       erschaffen, und der Einbeziehung der ganzen Volksgemeinschaft sei
       keinesfalls eine Spielart des Kolonialismus.
       
       23 Jan 2022
       
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