# taz.de -- Erfahrungen deutscher Juden in NS-Zeit: Verraten, verschleppt, verloren
       
       > Deportation von deutschen Jüd*innen: Die Historikerin Andrea Löw hat eine
       > eindrucksvolle historische Zusammenstellung vorgelegt.
       
 (IMG) Bild: Deportation deutscher Juden und Jüdinnen nach Riga
       
       „Es wird Ihnen hiermit eröffnet, dass Sie innerhalb von drei Stunden Ihre
       Wohnung zu verlassen haben.“ Es waren Sätze wie dieser von der Darmstädter
       Gestapo, die am Beginn der systematischen Deportation der deutschen und
       österreichischen Juden in den Osten standen. Überfallartig geschah dies
       oft, jegliche Habe galt als beschlagnahmt. Wer sich denn jetzt um den
       Kanarienvogel kümmern würde, war die letzte Frage eines Stettiner Juden,
       bevor er für immer sein Haus verlassen musste.
       
       Diese Deportationen werden heute mit dem Ziel Auschwitz identifiziert. Denn
       ein großer Anteil der deutschen Juden wurde in dieses Vernichtungslager
       verschleppt und dort ermordet.
       
       Tatsächlich aber deportierte die SS ab Oktober 1941 und bis Ende 1942 die
       Opfer nicht nach Auschwitz oder ein anderes Vernichtungslager. Die
       Mordstätten waren schlicht noch nicht betriebsbereit. Bis Ende 1942 kamen
       sie deshalb in von der [1][SS eingerichtete Ghettos im besetzten Osteuropa,
       vor allem nach Lodz in Polen, nach Riga in Lettland, Kaunas in Litauen und
       Minsk in Weißrussland.]
       
       Die Historikerin Andrea Löw hat es auf sich genommen, den Weg dieser Opfer
       nachvollziehbar zu machen. Sie hat in Dutzenden Archiven
       Augenzeugenberichte von Überlebenden und zeitgenössische Erinnerungen der
       Ermordeten zusammengestellt.
       
       ## Selbstzeugnisse von Jüdinnen und Juden
       
       Ihr Buch „Deportiert“ berichtet mithilfe dieser Selbstzeugnisse vom
       Leidensweg der Jüdinnen und Juden, beginnend mit der Nachricht ihrer
       Verschleppung, sich fortsetzend mit der Zugfahrt nach Osten und der
       Ankunft, unter unbeschreiblichen Bedingungen lebend im Ghetto, bedroht von
       Hunger, Krankheit, Kälte, Seuchen und den Mordaktionen der SS. Viele der
       Opfer wurden aber schon kurz nach ihrer Ankunft ermordet, darunter alle
       nach Kaunas Verschleppten. Die meisten starben in den Ghettos. [2][Wenige
       hat die SS später in ein anderes Lager oder KZ verschleppt, auch nach
       Auschwitz.]
       
       Löw beschreibt eindrücklich die erzwungenen Wege dieser Menschen. Fast alle
       von ihnen glaubten zu Beginn den Beteuerungen der SS, sie kämen zum
       Arbeiten in ein Lager oder Dorf und hätten es dort gut. Aber manche ahnten
       auch, dass es eine Reise in den Tod war.
       
       „Lebt wohl, bleibt alle hübsch gesund, bis wir uns im Jenseits wieder
       sehen“, heißt es in einem Abschiedsbrief von Gretel und Hugo Klein aus Bad
       Neustadt an der Saale.
       
       ## Leibesvisitation, Prügel und Strohsäcke
       
       Erste Station: das Sammellager, noch in der Heimat, verbunden mit
       Leibesvisitationen, Prügeln und Strohsäcken als Bettwäsche. Nicht nur das
       Eigentum war den Nazis in die Hände gefallen, sondern auch die Würde. Aber
       immer noch war da Hoffnung. „Keine schlechten Aussichten“, schrieb Erich
       Langer aus Essen über seine Zukunft.
       
       Zweite Station: im Zug. Schon auf dem Weg starben Reisegefährten vor
       Hunger, Stress und Kälte in den Zügen. Dritte Station: im Ghetto.
       Angekommen in einer unbekannten Umgebung, waren die Opfer mit furchtbaren
       Verhältnissen konfrontiert. In Minsk lagen Leichen Ermordeter in den
       Baracken. Sie erfuhren bald, wenn Mitreisende ermordet worden waren.
       
       „Man vermutet, dass wir in der Landwirtschaft eingesetzt werden“, schrieb
       Oscar Hoffmann aus Köln im Zug optimistisch. [3][Kurz darauf war er tot,
       erschossen in Maly Trostinez bei Minsk.] Andere lebten da noch im Ghetto.
       Wer nicht mehr arbeiten konnte, wurde ermordet.
       
       Die Selbstzeugnisse machen deutlich, dass der Holocaust für viele der Opfer
       ein nicht enden wollender Prozess der Täuschung und Erniedrigung gewesen
       ist, verbunden mit unbeschreiblichen Lebensverhältnissen, dazu
       Sprachbarrieren und Desorientierung in der Fremde. Wer sich in diesem
       realen Albtraum aufgab, war verloren. Die Illusionen waren dahin. „Alle
       paar Tage werden an die 20 Tote begraben“, notierte Berthold Rudner in
       Minsk. „[4][Viele erfrieren und verhungern“, schrieb Dora Hansen in Riga in
       ihr Tagebuch.]
       
       Und doch klammerten sich die Menschen an ihre Hoffnungen von einem Ende des
       Leidens. Nur die allerwenigsten von ihnen haben ihre Befreiung erleben
       dürfen.
       
       26 Mar 2024
       
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       ## AUTOREN
       
 (DIR) Klaus Hillenbrand
       
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