# taz.de -- Rituale politischer Berichterstattung: Neuwahlen? Laaaaaangweilig!!!
       
       > Das vorzeitige Regierungsende wird permanent prophezeit – dabei tritt es
       > fast nie ein. Unser Autor kann es langsam nicht mehr hören.
       
 (IMG) Bild: Gerede von Neuwahlen vernebelt den Kopf
       
       Der gemeine Haussperling findet in Deutschland [1][immer weniger
       Lebensräume], in Berlin aber geht es ihm prächtig. Auch Häuser gibt es in
       der Hauptstadt eine Menge, und damit beste Voraussetzungen dafür, dass
       Spatzen Dinge von Dächern pfeifen können.
       
       Etwa, dass die Bundesregierung kurz vorm Auseinanderbrechen steht. „Kippt
       die Ampel?“, stand auf der Titelseite der FAS, „Der Absturz der Grünen, ein
       hilfloser Kanzler und die Frage: Wie lange noch?“ auf der des Focus, „Drei
       Wochen haben sie noch […], sonst stellt sich für den Kanzler die
       Vertrauensfrage“, titelte die Zeit und „Mit dem Haushaltsstreit steuert die
       Ampel auf Neuwahlen im Herbst zu“ [2][schrieben auch wir] bei der taz.
       
       Der Auslöser dafür ist das Ergebnis der Europawahl, das die Fliehkräfte
       innerhalb der fragilen Dreierkonstellation noch weiter verstärkt. Dazu
       kommt die Uneinigkeit bei der Verteilung von vielen Haushaltsmilliarden,
       die zum Teil gar nicht existieren.
       
       Nun hat es Neuwahlen vor Ende der regulären Legislaturperiode in 75 Jahren
       BRD-Geschichte genau vier Mal gegeben: 1972, 1983, aufgrund der
       Wiedervereinigung 1990 und dann 2005. Ein vorzeitiges Koalitionsende wäre
       also etwas Besonderes, etwas Historisches. Solche Schlagzeilen sollten
       aufwühlen, elektrisieren, uns alle, und mich als Journalisten gleich
       doppelt.
       
       ## Wer dauernd schreit, wird nicht gehört
       
       Tun sie aber nicht. Das einzige starke Gefühl, das sie in mir auslösen ist:
       Langeweile. Denn irgendwie habe ich das mit den Neuwahlen ein wenig zu oft
       gehört. Nur ein paar Beispiele aus den letzten Monaten: „Über kurz oder
       lang hieße das eben wohl doch: Neuwahl, auch wenn die Ampel die nicht
       anstrebt.“ (Die Zeit, [3][20. 11. 2023])/ „Die Ampel wirkt wie ein Projekt
       in Auflösung“ (SZ, [4][8. 12. 2023]) / „Knipst der Osten die Ampel aus?“
       (dpa, [5][27. 3. 2024]).
       
       Auch in der letzten Merkel-Legislatur lief das schon so: „Zerbricht die
       Große Koalition am Thema Asyl?“ (Spiegel Online, [6][27. 6. 2018]) / „Die
       große Koalition torkelt noch einen Sommer; dann ist Schluss.“ (SZ, [7][2.
       6. 2019]) / „Groko am Ende – wie ginge es weiter? Drei Optionen bleiben,
       falls die SPD die Regierung verlässt.“ (Die Zeit, [8][4. 12. 2019]).
       Obendrauf kommt noch das Geplärre der Oppositionsparteien, die inzwischen
       einfach fast jede Woche nach Neuwahlen rufen.
       
       Die Unwucht im Verhältnis von Neuwahlgerüchten zu tatsächlichen Neuwahlen
       hat auch mit dem Berufsbild des Hauptstadtjournalisten zu tun. Der
       berichtet permanent über das politische Geschehen in Berlin. Weil es
       allerdings auf Dauer etwas langweilig (und aktuell auch ziemlich
       deprimierend) ist, bloß das zu beschreiben, was ist, wird zusätzlich gern
       über das geschrieben, was sein könnte. Gehört grundsätzlich ja auch zum
       Berufsbild, in Form von Kommentaren und Analysen.
       
       Trifft man dann die Politiker:innen und Kolleg:innen ständig vor
       und hinter verschlossenen Türen und abends noch bei irgendeinem Empfang,
       dann kennt man alle Gerüchte, ventiliert sie im kleinen Kreis, und
       irgendwann will das alles mal raus – die Personalspekulationen, die
       Machtkämpfe, die Koalitionsoptionen. Es ist ein wenig Macchiavelli, ein
       wenig wie in der Sportberichterstattung und es geht im besten Fall: um
       alles.
       
       ## Ein bisschen Drama klickt sich besser
       
       Ein bisschen Drama und Zuspitzung klickt und verkauft sich dabei umso
       besser, mit irgendetwas muss man aus den 37 verschiedenen täglichen
       Newslettern und Morgen-Briefings aus dem politischen Berlin schließlich
       auch herausstechen. Und seien Sie, liebe Lesende, mal ehrlich, was
       spannender klingt: Details aus der Ausschussarbeit oder Neues zum
       Ampelkrach und zur Frage, ob Merz „Kanzler kann“?
       
       Bis zum 3. Juli wollen sich SPD, FDP und Grüne auf einen Haushalt einigen.
       Falls das nicht klappt, oder anschließend die Fraktionen und die
       Partei-Basen ausreichend querschießen, könnte die Regierung tatsächlich
       zerbrechen. Diesmal wirklich!
       
       Ob das dann meinen Respekt vor den politischen Berichterstatter:innen
       in dieser Frage wiederherstellt? Na ja – sie sind da halt ein wenig wie
       ich, wenn ich ein Fußball-EM-Spiel schaue. Da sage ich auch bei 10 bis 15
       Angriffen und Flanken: „Uh, der ist jetzt drin!“ Aber wenn es dann mal
       stimmt, dann findet meine Hellsicht irgendwie niemand bemerkenswert.
       Michael Brake
       
       24 Jun 2024
       
       ## LINKS
       
 (DIR) [1] /Population-drastisch-gesunken/!5812336
 (DIR) [2] /Zustand-der-Ampel/!6015065
 (DIR) [3] https://www.zeit.de/politik/deutschland/2023-11/bundeshaushalt-ampel-koalition-bundesverfassungsgericht-urteil-doppelwumms/komplettansicht
 (DIR) [4] https://www.sueddeutsche.de/meinung/scholz-spd-regierung-krise-kommentar-1.6316448
 (DIR) [5] https://www.msn.com/de-de/nachrichten/politik/landtagswahlen-knipst-der-osten-die-ampel-aus/ar-BB1kBvDl
 (DIR) [6] https://www.spiegel.de/politik/deutschland/baukindergeld-koalition-kippt-aenderungen-bei-wohnungsbaupraemie-a-1215214.html
 (DIR) [7] https://www.sueddeutsche.de/politik/bundesregierung-koalition-spd-1.4470926
 (DIR) [8] https://www.zeit.de/2019/51/bundesregierung-grosse-koalition-spd-ausstieg-optionen
       
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 (DIR) Michael Brake
       
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