# taz.de -- Migrationsbeauftragte über Asyldebatte: „Grenzen werden verschoben“
       
       > In der Migrationsdebatte gehe es nur um Abschottung, sagt die Beauftragte
       > Reem Alabali Radovan. Dabei gebe es auch Erfolge, etwa bei
       > Einbürgerungen.
       
 (IMG) Bild: Reem Alabali-Radovan – hier am 25. Juni 2024 im Bundeskanzleramt – wünscht sich, dass wir wieder „mehr aufeinander zugehen“
       
       taz: Frau Alabali-Radovan, Sie sind sowohl die Beauftragte der
       Bundesregierung für Migration als auch für Antirassismus. Welcher Job ist
       gerade frustrierender? 
       
       Reem Alabali-Radovan: In beiden Bereichen mache ich mir gerade große Sorgen
       – und beide hängen zusammen. Es ist etwas ins Rutschen geraten dabei, wie
       wir über Migration diskutieren, welche Themen in den Vordergrund gerückt
       und Grenzen verschoben werden.
       
       Können Sie das näher ausführen? 
       
       Die politische Debatte dreht sich im Kreis, es geht dabei nur um
       Abschottung und Rückführung. Darüber, wie wir die Zahlen Geflüchteter
       stoppen. Das geht mit krassen, populistischsten Forderungen einher. Aus
       meiner Sicht geht das in die Richtung des berühmten Zitats: Die Migration
       sei die Mutter aller Probleme.
       
       Das stammt vom ehemaligen CSU-Innenminister Horst Seehofer. 
       
       Ich beobachte, dass wir in der aktuellen Debatte den Rahmen des Möglichen
       verlassen und uns vom gemeinsamen Wertekonsens entfernen, auch in Teilen
       der politischen Mitte. Geflüchtete werden sprachlich entmenschlicht,
       Menschenrechte über Bord geworfen und Migration insgesamt als Problem
       dargestellt.
       
       Führt der Kanzler diese Debatte selbst mit, wenn er davon spricht,
       [1][„endlich in großem Stil“ abzuschieben]? Oder die Bundesinnenministerin,
       wenn sie Wege sucht, nach Afghanistan und Syrien abzuschieben? 
       
       Wir haben in den vergangenen zweieinhalb Jahren in dieser Bundesregierung
       extrem viel nachgeholt, was in 16 Jahren unter Unions-Innenministern
       liegengeblieben ist. Unsere Leitlinie heißt „Humanität und Ordnung“. Dazu
       gehören steuernde Maßnahmen wie Rückführungen. Dazu gehört aber auch, neue
       Chancen zu schaffen, etwa durch das [2][Chancenaufenthaltsrecht] für
       Geduldete, bei der Einwanderung von Fachkräften oder bei der Reform des
       Staatsangehörigkeitsrechts.
       
       Wie glaubhaft sind solche Chancen denn, wenn gleichzeitig Abschiebungen
       verschärft und auf EU-Ebene das Asylrecht eingeschränkt wird? 
       
       Wir müssen unbedingt die Erfolge mehr in den Vordergrund stellen:
       Deutschland ist ein sehr erfolgreiches Land in der Mitte Europas, nicht
       trotz, sondern gerade wegen der Einwanderung. Aber unbestritten gibt es
       auch Herausforderungen in den Ländern und Kommunen, dort müssen wir echte
       Lösungen finden.
       
       Was meinen Sie? 
       
       Es fehlen Kitaplätze, Betreuung, Wohnungen. Das alles wirkt sich auch auf
       den Bereich Arbeit aus. Ich war sehr irritiert, dass die Union ihre
       Solidarität für Ukrainerinnen und Ukrainer jetzt daran knüpfen will, ob sie
       arbeiten oder nicht. Das ist hetzerisch. Und die Probleme hier werden doch
       nicht gelöst, wenn wir über Asylanträge in Drittstaaten diskutieren, was
       ich ohnehin sehr kritisch sehe. Vor ein paar Monaten wurde über die
       Bezahlkarte diskutiert, als sei sie die Lösung für alle Probleme. Jetzt
       kommt sie, und es zeigt sich: Die Herausforderungen sind noch immer da.
       Damit müssen wir uns beschäftigen statt mit sich selbst überbietenden
       Scheinlösungen.
       
       Ist das ein Appell an die Bundesregierung und Ihre Partei, die SPD? 
       
       Nein, es geht mir um eine Versachlichung der Debatten. Gern hart in der
       Sache, aber konstruktiv. Wie wollen wir unsere Einwanderungsgesellschaft
       bestmöglich und respektvoll gemeinsam gestalten?
       
       Einer der Erfolge, die Sie ansprachen, ist die Einbürgerungsreform: Ab
       Donnerstag können Menschen sich nach fünf statt nach acht Jahren
       [3][einbürgern lassen] – und sie müssen ihre bisherige Staatsbürgerschaft
       nicht mehr abgeben. Welche Rolle spielt dieses Gesetz für den
       Migrationsdiskurs? 
       
       Diese Reform ist ein großer Erfolg. Sie bringt Verbesserungen für die
       Menschen, die schon lange hier leben, dazu gehören und Deutsche werden
       wollen. Es ist jetzt endlich für jede und jeden möglich, zwei Pässe zu
       haben. Identität gibt es auch im Plural. Das ist ein Paradigmenwechsel und
       wegweisend für die Zukunft unserer modernen Einwanderungsgesellschaft.
       
       Schon jetzt stauen sich allerdings 200.000 Anträge. Wie soll das
       funktionieren? 
       
       Ich begleite die Reform mit einer Informationskampagne. Und seit über zwei
       Jahren bin ich im Austausch mit den Ländern und Kommunen. Es geht um
       Digitalisierung, Synergien, spezialisierte Teams. Gleichzeitig bringt das
       Gesetz auch Vereinfachungen beim Informationsfluss der Behörden
       untereinander. Natürlich liegt es aber in der Hoheit der Länder, auch mehr
       Personal für die zuständigen Behörden bereitzustellen.
       
       [4][Im Einbürgerungstest wird künftig unter anderem gefragt], welche Städte
       die größten jüdischen Gemeinden haben. Inwiefern hilft das, Antisemitismus
       zu bekämpfen? 
       
       Die Änderungen am Einbürgerungstest sind auch das Ergebnis einer Diskussion
       nach dem [5][terroristischen Angriff der Hamas auf Israel]. Es geht um die
       historische Verantwortung Deutschlands und das Sichtbarmachen jüdischen
       Lebens in unserem Land. Natürlich muss es aber bei der Bekämpfung von
       Antisemitismus zuallererst um politische Bildung gehen, um
       Demokratieförderung und um Prävention. Diese Bereiche müssen wir stärken,
       dort müssen wir investieren.
       
       Sie sagen „investieren“. Gerade laufen die Haushaltsverhandlungen. Die
       Projekte, die sich in diesem Bereich engagieren, befürchten Kürzungen. Wie
       passt das zusammen? 
       
       Wir sind in einer schwierigen Haushaltslage. Gleichzeitig steigen die
       Zahlen rassistischer, antisemitischer und antiziganistischer Vorfälle
       massiv an, wie die entsprechenden Lageberichte zeigen. Ich sage ganz klar:
       Wir brauchen mehr Prävention, und dafür brauchen wir Geld. Natürlich setze
       ich mich in den Haushaltsverhandlungen dafür ein, meine Arbeit auch
       weiterhin finanziell abzubilden – etwa die Beratungsstellen für Betroffene
       von Rassismus. Das reicht aber nicht, ich habe auch eine Forderung an das
       Parlament.
       
       Und zwar? 
       
       Wir brauchen endlich das Demokratiefördergesetz. Das passt nämlich nicht
       zusammen: Wir hatten die vielen Demonstrationen [6][gegen rechtsextreme
       Ideologien und Deportationspläne], wir erleben, dass die Zivilgesellschaft
       sich für unsere Demokratie einsetzt – aber im Bundestag können wir uns
       nicht einigen auf ein Gesetz, das genau dieses Engagement langfristig
       absichern soll.
       
       Sie haben die stark steigenden Zahlen rassistischer und antisemitischer
       Vorfälle genannt. Was passiert da gerade in Deutschland? 
       
       Mich beunruhigt die Situation sehr. Sehr viele Menschen machen sich große
       Sorgen um ihre Zukunft hier in Deutschland, um die Zukunft ihrer Kinder.
       Ich persönlich, mit meiner eigenen Fluchtgeschichte, kann das gut
       nachempfinden. Wir alle müssen uns fragen, in welche Richtung wir als
       Gesellschaft gehen wollen. Ich wünsche mir einen Ruck gegen Rassismus, der
       durch die ganze Gesellschaft geht. Es gibt immer wieder kurze Wellen der
       Empörung, nach dem Video mit den rassistischen Gesängen auf Sylt oder nach
       dem Vorfall von Grevesmühlen zum Beispiel …
       
       … dort hat eine größere Gruppe zwei ghanaische Mädchen rassistisch
       beleidigt und physisch angegriffen …
       
       … ja, und Betroffene haben nicht das Gefühl, dass diese Empörung wirklich
       nachhaltig wirkt und etwas ändert. Daran müssen wir alle, Politik und
       Gesellschaft, gemeinsam arbeiten. Die AfD schürt Ressentiments und Ängste
       gegenüber Migrantinnen und Migranten. Wir Demokratinnen und Demokraten –
       und das meine ich wirklich parteiübergreifend – müssen dem etwas
       entgegensetzen, uns schützend vor sie stellen. Es ist falsch, in die
       populistische Rhetorik mit einzusteigen.
       
       Seit dem 7. Oktober sind sowohl die Zahlen antisemitischer als auch
       antimuslimischer Vorfälle exorbitant gestiegen. Was sagt das über den
       Umgang mit dem Hamas-Massaker und dem Gazakrieg hierzulande aus?
       
       Deutschland ist ein Einwanderungsland, internationale Krisen und Konflikte
       betreffen uns ganz direkt, viele persönlich. Das gilt auch für den
       terroristischen Anschlag der Hamas auf Israel und den Krieg in Gaza.
       Jüdinnen und Juden haben Angst um ihre Sicherheit in Deutschland – zu
       Recht, wenn man sich die Zahlen anschaut. Gleichzeitig fühlen sich nicht
       nur Musliminnen und Muslime unter Generalverdacht gestellt, wenn sie ihre
       Sorge und ihren Schmerz über die Situation im Gazastreifen äußern. Leider
       werden beide Gruppen oft gegeneinander ausgespielt. Für mich zeigt das
       auch, dass wir es noch nicht geschafft haben, solche schwierigen Debatten
       der Einwanderungsgesellschaft auf eine gute Art zu führen, ohne Ausgrenzung
       noch weiter zu schüren. Das haben wir nicht gut hinbekommen in den letzten
       Monaten. Wir müssen mehr aufeinander zugehen.
       
       Wissen Sie, ob sich das auch auf die Wahlergebnisse der Europa- und
       Kommunalwahlen Anfang Juni ausgewirkt hat? 
       
       Ich kann nur aus eigener Erfahrung sprechen: Am 19. Februar war ich in
       Hanau. Ich habe dort mit jungen Menschen gesprochen, die bei dem
       rassistischen und rechtsextremen Anschlag vor vier Jahren Bekannte und
       Freunde verloren haben. Wir haben auch über die aktuelle Situation
       gesprochen und viele haben erzählt, dass sie sich allein gelassen fühlen
       mit ihrem Frust und ihrem Schmerz. Ich kann mir vorstellen, dass einige der
       jungen Menschen sich deshalb komplett abwenden. Er wird meiner Meinung nach
       unterschätzt, was diese starken Eindrücke und berechtigten Gefühle gerade
       mit jungen Menschen in Deutschland machen.
       
       27 Jun 2024
       
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