# taz.de -- Antisemitismus in Deutschland: Definitiv Definitionssache
       
       > Was genau ist Antisemitismus? Darüber gibt es immer wieder erbitterte
       > Debatten – auch unter Jüdinnen und Juden in Deutschland. Drei
       > Perspektiven.
       
       BERLIN taz | Antisemitismus – seit dem 7. Oktober und seitdem der Krieg in
       Nahost auch weltweit für erbitterte Debatten sorgt, ist das Wort auch in
       Deutschland wieder in aller Munde.
       
       Wie geht es Jüdinnen und Juden in Deutschland derzeit? Was denken sie über
       die Art und Weise, in der in Deutschland über Antisemitismus gesprochen
       wird? Wir haben mit drei von ihnen gesprochen. Sie sind sich zwar in ihrer
       Besorgnis um Antisemitismus einig – doch in der Frage danach, was
       eigentlich Antisemitismus ist, wann Kritik an Israel in Antisemitismus
       umschlägt und wie gegen Antisemitismus vorgegangen werden sollte, gehen
       ihre Meinungen auseinander.
       
       ## Sigmount Königsberg: Der moderne Antisemit sagt „Ich hasse Israel“ 
       
       Wenn mich vor 20, 25 Jahren jemand gefragt hätte, ob Deutschland ein
       sicherer Platz ist für Juden, hätte ich ohne weiteres Nachdenken Ja gesagt.
       Heute steht da für mich ein Fragezeichen.
       
       Als Antisemitismusbeauftragter der Jüdischen Gemeinde höre ich ja von
       Juden, wie es ihnen geht. Dass Schüler einer orthodox ausgerichteten
       jüdischen Schule in Berlin seit dem 7. Oktober ihre Schuluniformen nicht
       mehr tragen, aus Angst, als Jüdinnen und Juden sichtbar zu sein. Andere
       kehren ihre Zizit, die weißen Bändchen, die sie normalerweise an den
       Hosenbeinen herunterhängen lassen und als Juden erkennbar machen, nach
       innen. Ein alteingesessenes koscheres Restaurant stellt seinen Betrieb ein.
       
       Diese Entwicklung ist nicht ganz neu für mich, schon vor dem 7. Oktober
       haben sich Kooperationspartner nach und nach von der Bekämpfung des
       Antisemitismus abgewendet: Teile der antirassistischen Szene, aus der
       Frauenbewegung, aus der LGBTQI-Bewegung.
       
       Woran das liegt? Ich würde sagen, eine wirkliche Auseinandersetzung mit
       Antisemitismus hat nicht stattgefunden. Man hat Antisemitismus immer nur
       bei den anderen, insbesondere den Rechtsradikalen verortet. Dabei wurde
       aber systematisch versäumt, sich dem eigenen Judenhass zu stellen.
       
       Wenn man es aber analysiert, ist Antisemitismus Teil der kulturellen DNA
       Europas: Die Bilder der Mythen von Juden als Brunnenvergifter, Wucherer und
       Kindermörder wurden von Generation zu Generation weitergegeben.
       Gleichzeitig passt sich der Antisemitismus chamäleonartig den jeweiligen
       Gegebenheiten der modernen Gesellschaft an. Dies war in der Coronakrise zu
       beobachten. Juden wurden beispielsweise persönlich für die Entstehung des
       Virus verantwortlich gemacht – eine moderne Abwandlung des
       Brunnenvergiftermythos aus der Zeit der Pest im 14. Jahrhundert.
       
       Ich bin von Kindheit an an Vorsicht gewöhnt. Meine Eltern waren
       Shoa-Überlebende, ich wuchs in Saarbrücken auf und besuchte dort die
       französische Schule – so wie alle jüdischen Kinder in Saarbrücken zu der
       Zeit. Dadurch hatte ich keine Altnazis als Lehrer, aber Judenwitze auf dem
       Schulhof wurden dennoch gemacht – immer mit der Anmerkung versehen, dass
       ich damit nicht gemeint sei. Wenn ich mit meinen Eltern an Feiertagen aus
       der Synagoge kam, erinnerte meine Mutter mich stets daran, die Kippa
       abzusetzen.
       
       Doch die Formen des Antisemitismus haben sich auch über die abgewandelten
       Bilder hinaus transformiert. Der moderne Antisemit sagt meistens nicht „Ich
       hasse Juden“, sondern „Ich hasse Zionisten, beziehungsweise Israel“, meint
       aber das Gleiche. Und das auch nicht erst seit dem 7. Oktober. Ich habe in
       den 1980er Jahren an der FU Berlin Publizistik, Politik und Geschichte
       studiert, und ich erinnere mich daran, auf einer Party von einem
       Kommilitonen gefragt worden zu sein, was „meine“ Regierung „da unten“
       mache. Das heißt, ich als Jude wurde für das Handeln Israels verantwortlich
       gemacht. Das erleben fast alle Juden in Deutschland. Was aber jetzt an den
       Universitäten passiert, das macht mich fassungslos. [1][„From the River to
       the Sea“], „Jalla Jalla Intifada“ – das sind Aufrufe zur Vernichtung
       Israels, und damit auch zur Ermordung der dort lebenden Menschen. Und dann
       sei noch an den Angriff auf Lahav Shapira erinnert.
       
       Da sind dann natürlich die Erklärungen von Hochschuldozentinnen und
       -dozenten fatal, die die Räumung eines Protestcamps an der FU kritisiert
       haben. Sie erwecken den Eindruck, dass Universitäten rechtsfreie Räume
       seien, und schließen im Prinzip diejenigen aus, die von den Besetzerinnen
       und Besetzern angegriffen werden. Da kann man nicht mit akademischer
       Freiheit argumentieren. Übertroffen wurde dies von der Präsidentin der TU
       Berlin, die nicht nur antisemitische Tweets gelikt hat, sondern – was viel
       gravierender ist – übergriffig und paternalistisch vorgegangen ist, als sie
       einen Antisemitismusbeauftragten berufen hat, ohne sich mit den Betroffenen
       ins Benehmen zu setzen.
       
       Ich selbst spüre Antisemitismus lange bevor er richtig greifbar wird.
       Aufgrund meiner Sozialisation habe ich gelernt, dass es Vorboten gibt,
       bevor Antisemitismus manifest wird.
       
       Systematische Arbeit bedarf jedoch einer allgemein anerkannten Grundlage.
       Dies leistet die [2][IHRA-Definition], also die Arbeitsdefinition von
       Antisemitismus, die von der International Holocaust Remembrance Alliance
       ausgearbeitet und beschlossen wurde. Den Kritikern der IHRA sei gesagt: Es
       ist sehr wohl möglich, die aktuelle Regierung Israels zu kritisieren, ohne
       sich dem Vorwurf des Antisemitismus ausgesetzt zu sehen. Die wöchentlichen
       Demonstrationen in Tel Aviv sind das beste Beispiel hierfür.
       
       Die sogenannte [3][Jerusalemer Erklärung] hingegen ist der Versuch, die
       häufigste Erscheinungsform des Antisemitismus, den israelbezogenen
       Antisemitismus, zu legitimieren. Die besagt beispielsweise, dass die
       Boykottbewegung BDS nicht per se antisemitisch ist, sondern dies sein kann
       – abhängig vom Kontext. Aber die Sache ist doch: BDS ist per se
       antisemitisch. Aus den englischsprachigen Gründungserklärungen von BDS geht
       klar hervor, dass BDS die Existenz des jüdischen Staats Israel ablehnt und
       „all arab Land“ (eben das ganze Staatsgebiet Israels) für die Palästinenser
       reklamiert. Zudem erinnert mich BDS sehr stark an das „Kauft nicht bei
       Juden“ von 1933. Beim letzten ESC-Wettbewerb in Malmö war gerade dieser
       Aspekt offensichtlich. Warum es Jüdinnen und Juden gibt, die sich doch
       hinter die Jerusalemer Erklärung stellen? Ich habe null Verständnis für
       diese Haltung. Es muss die Frage erlaubt sein, ob dies politische Blindheit
       ist oder ein gewolltes Ignorieren, um den Antisemitismus ihres politischen
       Umfelds nicht sehen zu müssen.
       
       Sigmount Königsberg wurde 1960 in Saarbrücken geboren. Er ist seit 1994
       Mitarbeiter der Jüdischen Gemeinde von Berlin und seit 2017 deren
       Antisemitismusbeauftragter. 
       
       ## Emily Dische-Becker: Nicht in rechtes Projekt einspannen lassen 
       
       Ich glaube, dass der Schutz jüdischen Lebens am besten innerhalb eines
       funktionierenden Rechtsstaats und in Solidarität und Verbundenheit mit
       anderen Minderheiten funktioniert, nicht mit Repression.
       
       Die Erlebnisse meiner Kindheit in Deutschland waren stark geprägt von der
       Verfolgungserfahrung meiner Familie mütterlicherseits. Meine Mutter ist die
       Tochter von Holocaustüberlebenden, der Großteil ihrer Familie wurde in der
       Shoah ermordet.
       
       Meine Großeltern flohen in die USA, seit Ende der Siebzigerjahre lebte
       meine Mutter in Westberlin, wo ich mit ihr und meinem Vater aufwuchs. Meine
       Mutter fühlte sich hier häufig stark angefeindet, und ich habe mich früh
       als ihre Verteidigerin verstanden.
       
       Meine Mutter war Flüchtlingskind und hat sich stark mit Geflüchteten
       identifiziert. Wir hatten eigentlich immer ein volles Haus – mit
       Dissidenten und Verfolgten aus aller Welt. Als der Bosnienkrieg anfing,
       haben wir bosnische Freunde aufgenommen, und ich habe früh die Schikane der
       deutschen Bürokratie erlebt. Auch postsowjetische Juden, die bei uns
       untergekommen sind, wurden unwürdig behandelt. Es war eigentlich immer
       klar, dass wir bei „Ausländer raus“ und hetzenden Bild-Schlagzeilen
       mitgemeint waren.
       
       Heute haben wir die größte palästinensische Diaspora in Europa, deren
       Ausdruck von Identität kriminalisiert wird und deren familiäre
       Gewalterfahrung gerade oft pauschal als antisemitisch delegitimiert wird.
       
       Als im Sommer 2015 viele Menschen aus Syrien in Deutschland Schutz gesucht
       haben, [4][hat der Vorsitzende des Zentralrats der Juden gesagt, es müsse
       Obergrenzen für Geflüchtete aus dem arabischen Raum geben]. Dies hat er
       auch mit Antisemitismus unter ihnen begründet. Daraufhin habe ich zusammen
       mit meiner Mutter und anderen nationalismusskeptischen Jüdinnen und Juden
       vor dem Zentralrat protestiert. Der Zentralrat spricht für einen großen
       Teil der in Deutschland lebenden Juden, aber nicht für alle. Seine
       Intoleranz gegenüber dissidenten Jüdinnen und Juden, mit der Begründung,
       diese seien nicht „repräsentativ“, läuft auf die Forderung nach einer
       Anpassung an die Dominanzgesellschaft hinaus. Ich halte es für fatal, sich
       für ein rechtes Projekt einspannen zu lassen, in dem Minderheiten
       gegeneinander ausgespielt werden. Das ist keine sinnvolle Lektion aus der
       NS-Zeit.
       
       Deutschland beteiligt sich gerade an der Schwächung des Völkerrechts.
       Internationale Körperschaften des Rechts werden untergraben,
       Menschenrechtsgruppen werden als antisemitisch diffamiert. Und weil dies
       vermeintlich im Namen jüdischer Sicherheit geschieht, wird es früher oder
       später zu einem brutalen Backlash gegen Jüdinnen und Juden führen. In
       meinen Augen ist es in den vergangenen Jahren auch deswegen schwieriger
       geworden, gegen Antisemitismus vorzugehen, weil die Gleichsetzung von
       Antisemitismus und Opposition gegen die israelische Politik so ein
       erfolgreiches Projekt ist. Diese beiden Sachen werden ungenügend getrennt.
       Damit bestätigt sich doch für viele nur der Verdacht, dass jeder Vorwurf
       von Antisemitismus politisch motiviert sei.
       
       Das war von Anfang an ein Grund, warum die Diaspora Alliance aktiv geworden
       ist. Wir setzen auf Solidarität und Partnerschaftlichkeit, weil man nur so
       glaubhaft Antisemitismus auch im eigenen Milieu adressieren kann.
       
       Es gibt in der Palästinabewegung, auch unter Jüdinnen und Juden, einige,
       die Antisemitismus nicht immer klar benennen, auch, weil sie nicht zur
       staatlichen Verfolgung von ohnehin entrechteten Menschen beitragen wollen.
       In der Überzeugung, dass Antisemitismus adressiert werden muss, suchen wir
       in Fällen, in denen es uns sinnvoll erscheint, das Gespräch häufig
       nichtöffentlich. Nach unserer Erfahrung ist Kritik nur dann konstruktiv,
       wenn Menschen nicht befürchten müssen, absichtlich falsch verstanden zu
       werden.
       
       Wir beschäftigen uns außerdem mit dem Monitoring von antisemitischen
       Vorfällen, wie Antisemitismus von staatstragender Seite gezählt und
       klassifiziert wird. In den Zahlen der [5][Recherche- und Informationsstelle
       Antisemitismus (RIAS)] werden zum Beispiel tatsächlich antisemitische
       Vorfälle und scharfe, aber legitime politische Aussagen gegen einen Staat
       vermischt.
       
       Ein Beispiel: In der Chronik antisemitischer Vorfälle aus dem Jahr 2020
       wurde beispielsweise die Aussage eines anonymen Sprechers vor dem Landtag
       in Sachsen-Anhalt als antisemitisch dokumentiert. Nun stellte sich aber
       heraus, dass dieser Sprecher der renommierte israelische Historiker Moshe
       Zimmermann war, der gesagt hat, dass die Lektion „Wehret den Anfängen“ eine
       universale ist und im Übrigen auch für Israel gelte.
       
       Die Jerusalemer Erklärung (JDA), die auch Zimmermann unterstützt, erscheint
       uns als der pädagogisch gescheitere Ansatz als die IHRA-Definition. In der
       JDA heißt es beispielsweise, dass bestimmte Forderungen nach gleichen
       Rechten für alle Menschen zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer nicht per
       se antisemitisch sind, wohl aber eine Leugnung des Rechts auf ein jüdisch
       kollektives Leben im Staat Israel „gemäß dem Gleichheitsgrundsatz“.
       
       Erinnerungspolitik muss verhindern, dass es wieder zu antidemokratischen,
       faschistischen Tendenzen kommt. Wenn Erinnerungskultur dem
       Deutschnationalen und Rassistischen nichts mehr entgegenhält, dann sind wir
       Erinnerungsversager.
       
       Emily Dische-Becker, 1982 in Berlin geboren, ist Publizistin und Kuratorin.
       Sie leitet das deutsche Büro des transnationalen Instituts Diaspora
       Alliance 
       
       ## Philip Gutmann: „Antisemitismus kenne ich von meiner Kindheit an“ 
       
       Vor ein paar Jahren haben meine Eltern mir in Antwerpen eine Kette mit
       einem Davidstern geschenkt. Meine Mutter hat sich schon immer Sorgen
       gemacht, wenn ich sie sichtbar tragen wollte. Kurz nach dem 7. Oktober hat
       sie die Kette dann versteckt, damit ich sie nicht finden konnte. Als ich
       meine Mutter danach fragte, fing sie an zu weinen und rang mir das
       Versprechen ab, die Kette nicht zu tragen. Das mache ich seitdem auch
       nicht.
       
       Mein Vater ist in Israel aufgewachsen, seine Eltern sind in den 1970er
       Jahren aus der Ukraine nach Israel eingewandert, meine Mutter selbst ist
       auch Ukrainerin. Sie erwähnt oft, wie schlecht es ihr als Jüdin ging, aber
       geht selten ins Detail. Wenn doch, dann höre ich von jüdischen Mitschülern,
       die von nichtjüdischen Ukrainern zusammengeschlagen wurden. Oder von
       Sprüchen wie: „Geh doch zurück nach Israel!“
       
       Ich weiß, dass meine Mutter immer verheimlicht hat, dass sie Jüdin ist. Als
       sie es irgendwann ihrer besten Freundin erzählte, reagierte diese
       antisemitisch. Also sehe ich es als meine Verantwortung, dafür einzustehen,
       dass meinen Eltern so etwas nicht mehr passiert.
       
       Mit meiner jüdischen Identität sehe ich mich aber nicht primär als Opfer
       von Antisemitismus. Für mich bedeutet Jude sein in erster Linie die
       Verbindung mit dem Land Israel und mit allen Juden auf der Welt. Und ich
       stehe dazu, beides zu verteidigen, das Land und das Volk.
       
       Antisemitismus kenne ich von meiner Kindheit an. Auf Partys in meiner
       Schulzeit gab es antisemitische Trinksprüche: „Trink oder du bist Jude!“,
       war beispielsweise sehr verbreitet. Holocaustwitze habe ich auch oft von
       Nichtjuden gehört, meistens, wenn sie nicht wussten, dass ich Jude bin,
       manchmal aber auch gerade deswegen.
       
       Einmal hat mir jemand gesagt, dass Mitschüler mich zusammenschlagen wollen.
       Das war während der so genannten Mottowoche vor den Abschlussprüfungen. An
       einem Tag war das Thema „Nationalität“. Jeder hat sich entsprechend der
       eigenen Nationalität verkleidet. Ich trug einen aufgeklebten Bart und eine
       Israelflagge. Ein paar arabische und türkische Schüler aus meiner Stufe
       hatten auch teilweise Kostüme oder Flaggen dabei, die ihre Herkunft
       repräsentieren. Einige von ihnen hielten eine Palästina-Flagge hoch, obwohl
       sie nicht palästinensischer Herkunft sind. Sie nahmen ein Video auf, in dem
       sie „Free, free Palestine“ schrien und Israel dämonisierten und schickten
       es herum. Ich habe dann in der WhatsApp-Gruppe mit einer Israelflagge
       geantwortet und sie als Antisemiten bezeichnet. Das hat einen Konflikt
       ausgelöst.
       
       Ich nehme eine massive Veränderung seit dem 7. Oktober wahr. Eine Sache,
       die auf den ersten Blick wie eine Kleinigkeit wirkt, sind die Plakate an
       der Uni. Dort hängen so viele Plakate, auf denen gegen Israel gehetzt wird,
       Israel dämonisiert wird oder Israel das Existenzrecht abgesprochen wird.
       
       In unserer jüdisch-israelischen Studenteninitiative an der FU, an der auch
       Nichtjuden beteiligt sind, reißen wir solche Plakate dann ab, und hängen
       stattdessen andere Poster auf. Zu 90 Prozent Poster, mit denen auf die
       Geiseln der Hamas aufmerksam gemacht wird.
       
       In diesem Zusammenhang ist es auch zu dem Angriff auf Lahav Shapira
       gekommen. Er wurde von Propalästinensern als „Provokateur“ oder „Aggressor“
       dargestellt und im Februar dieses Jahres in Berlin-Mitte von einem
       Mitstudenten krankenhausreif geschlagen. Bei einer propalästinensischen
       Kundgebung an der FU einige Tage später hat einer der Redner gesagt, Lahav
       solle sich nicht wundern, dass ihm so etwas geschieht, er habe zuvor
       dadurch provoziert, dass er Plakate abgerissen habe.
       
       Als sei es irgendwie legitim, dass er angegriffen wurde. Und keiner der
       anderen Demonstrierenden hat etwas dagegen gesagt. Wenn diese Menschen sich
       tatsächlich nur um das Wohl von Palästinensern im Nahostkonflikt sorgen und
       keine Antisemiten sind, dann frage ich mich, wie das damit vereinbar ist.
       
       Bei derselben Kundgebung hat jemand von der proisraelischen Gegenseite, bei
       der auch ich stand, gesungen: „Hört gut zu, ihr Terroristen, möge euer Dorf
       brennen!“. Die Gruppe Jewish Life Berlin, an der er beteiligt war, hat ihn
       dann rausgeworfen mit dem Argument, so etwas werfe ein schlechtes Bild auf
       die Gruppe und sei kontraproduktiv im Kampf gegen Antisemitismus. Das
       Argument verstehe ich.
       
       Aber er hat sich hinterher erklärt: Er sei für den Schutz von Zivilisten
       und wollte lediglich sagen, dass man die Infrastruktur der Hamas zerstören
       solle. Wenn er das wirklich so gemeint hat, dann kann ich mit dieser
       Erklärung mitgehen. Ich unterstütze trotzdem die Entscheidung von Jewish
       Life Berlin ihn rauszuwerfen. Solche unvorsichtigen und leicht falsch zu
       verstehenden Aussagen haben nichts im politischen Diskurs zu suchen.
       
       Ich finde, Deutschland hat Verantwortung dabei übernommen, das Gedenken an
       die Shoah zu wahren. Was aber die Lektionen aus der Shoah angeht, hat
       Deutschland meines Erachtens versagt. Die wichtigste Lektion aus der Shoah
       ist Juden zu schützen und als Nichtjuden Verantwortung für die jüdischen
       Mitbürger zu übernehmen. Das bedeutet einerseits, Juden in Deutschland zu
       beschützen und Antisemitismus entschlossen entgegenzutreten und
       andererseits, dem jüdischen Staat vollständige Unterstützung bei seinem
       Kampf gegen Terrorismus und um seine Existenz zu gewähren.
       
       Drohungen und Gewalttaten gegen Juden müssten viel stärker geahndet werden.
       Hier und da werden Reden geschwungen, dass Antisemitismus nicht zu
       Deutschland gehöre und der Schutz von Israel deutsche Staatsräson sei. Aber
       diese Reden bringen nichts, wenn darauf keine Taten folgen. Es wäre mal
       schön, die Nachrichtenseiten zu öffnen und lesen: Neues
       Antisemitismusgesetz erlassen.
       
       Aber daran glaube ich nicht, also habe ich beschlossen, auszuwandern. Ich
       werde mein Jurastudium noch beenden und dann nach Israel gehen. Es heißt
       schon etwas, dass ich lieber in einem Kriegsgebiet leben möchte, das von
       vielen Seiten von Terrororganisationen bedroht ist, als in einem
       verhältnismäßig friedlichen Land mitten in Europa.
       
       Philip Gutmann ist 2004 in Berlin geboren und studiert derzeit Jura an der
       Freien Universität Berlin. Er ist Mitglied in der FU Studenten Initiative,
       einem Zusammenschluss von Juden, Israelis und nichtjüdischen Aktiven.
       
       27 Jun 2024
       
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