# taz.de -- 60 Jahre deutsch-türkisches Abkommen: Von Gastarbeitern und Immigranten
       
       > Dieses Jahr ist der sechzigste Jahrestag des deutsch-türkischen
       > Anwerbeabkommen. Seit 1961 waren reichlich Rückzugsgefechte zu
       > beobachten.
       
 (IMG) Bild: Arbeitsminister Bülent Ecevit im Jahr 1964 mit Arbeiter*innen eines Fordwerks
       
       Dieses Jahr ist der sechzigste Jahrestag des deutsch-türkischen
       Anwerbeabkommens. Im Jahr 1961 begann die von den Staaten regulierte
       Einwanderung aus der Türkei nach Deutschland. Ich war 1961 drei Jahre alt,
       als sich meine Eltern entschlossen, nach Deutschland zu ziehen. Zeit für
       eine persönliche Bilanz.
       
       In den ersten Jahren hatte ich kaum Kontakt zu türkischen Immigranten.
       Anwerbeabkommen mit Italien, Spanien und Griechenland waren bereits Mitte
       der fünfziger Jahre abgeschlossen worden. Die ersten rassistischen Sprüche,
       derer ich mich als Kind erinnere, waren gegen Italiener gerichtet.
       Italienisches Flair hat heute eine positive Konnotation. Damals war
       „Knoblauchfresser“ eine weitverbreitete Bezeichnung für italienische
       Einwanderer.
       
       Erst als politisierter Jugendlicher kam ich in Kontakt mit anderen
       türkischen und kurdischen Einwanderern. Es waren vor allem junge Männer,
       die von Deutschland als billige Arbeitskräfte für die Fabriken angeworben
       worden waren. Sie schufteten fleißig in den Fabriken, lebten unter
       erbärmlichen Bedingungen in Heimen und bereicherten die deutschen
       Sozialversicherungskassen. Man nannte sie „Gastarbeiter“.
       
       ## Jugendlicher Gerechtigkeitssinn
       
       Mein jugendlicher Gerechtigkeitssinn begehrte gegen die Verhältnisse auf.
       Um für minimale Grundrechte zu kämpfen, organisierten wir uns politisch.
       Wir redeten von „Ausbeutung“ und versuchten Grundrechte einzuklagen. Und
       die Öffentlichkeit, die Medien, die Politik?
       
       Die „Gastarbeiter“ waren in dem öffentlichen Bewusstsein und in der
       politischen Debatte faktisch nicht existent. Sie waren auch kein
       „Problemfall“, weshalb die politisch organisierte, rassistische Hatz
       ausblieb, auch wenn man im Alltag Diskriminierung ausgesetzt war.
       
       Der ausgefeilte rassistische Diskurs, heute ideologisch präsent durch die
       AFD und in Form rechtsextremer Gewalt, kam erst später und mehrere Faktoren
       haben ihn begünstigt.
       
       ## Kampagne gegen die doppelte Staatsangehörigkeit
       
       Zum einen der Umstand, dass nach mehr als 40 Jahren der Staat, der stets
       geleugnet hatte, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, im Jahr 2000
       eine halbherzige Reform des Staatsangehörigskeitsrechts auf den Weg
       brachte. Die CDU mobilisierte gegen das Gesetz. Im hessischen Wahlkampf
       startete die Partei eine Kampagne gegen die doppelte Staatsangehörigkeit
       und gewann die Wahlen.
       
       Doch irgendwann waren aus den Gastarbeitern Immigranten geworden, deren
       Kindern man bei Geburt zumindest einen deutschen Personalausweis
       ausstellte. Vorbei die Zeiten, als in Büchern angesehener Verlage bei
       Übersetzungen aus dem Englischen aus „immigrants“ „Gastarbeiter“ wurden.
       Zum anderen die Krisenbedingungen des Kapitalismus und die Ankunft der
       Flüchtlinge 2015.
       
       Vieles hat sich geändert. 1993 steckten vier junge Deutsche in Solingen ein
       Haus in Brand und ermordeten fünf Türkinnen. Bundeskanzler Kohl ging nicht
       zur Beerdigung. Sein Regierungssprecher verwies auf die „weiß Gott anderen
       wichtigen Termine“. Schließlich wolle man keinen „Beileidstourismus“.
       
       ## Die Ressentiments in der Mehrheitsgesellschaft
       
       Welcher großer Unterschied zu Hanau 2020 mit Trauerkundgebungen mit
       Bundeskanzlerin Merkel und Bundespräsident Steinmeier. Die CDU-Kampagne
       „Kinder statt Inder“ vor 30 Jahren würde man heute eher bei der AFD
       verorten. Doch die Akzeptanz der Einwanderungsgesellschaft ist schmerzhaft
       und auch die politischen Akteure des Mainstreams greifen rassistische
       Muster auf, um die Ressentiments in der Mehrheitsgesellschaft zu bedienen.
       
       Man denke an 69 abgeschobene Afghanen zum 69. Geburtstag für Horst
       Seehofer. In Deutschland gibt es Geografielehrer, die nicht wissen, dass
       ein Teil der Türkei in Europa liegt. Doch wenn der Anteil von
       Immigrantenkindern an deutschen Grundschulen über einem Drittel liegt, ist
       der Zug abgefahren.
       
       Immer wieder flammt die Debatte über die „deutsche Leitkultur“ auf. Die,
       die vehement die Unterordnung unter eine „Leitkultur“ fordern, mögen immer
       wieder Zuspruch erhalten. Doch es sind nur Rückzugsgefechte. Wohl oder übel
       müssen wir auf Grundlage eines konstitutionellen Wertesystems
       zusammenleben.
       
       13 Jul 2021
       
       ## AUTOREN
       
 (DIR) Ömer Erzeren
       
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