# taz.de -- Soziologe zu deutschem Ost-West-Konflikt: „Mein Optimismus ist gedämpft“
       
       > Soziologe Steffen Mau glaubt, die Ost-West-Verwerfung in Deutschland
       > werde eine Konfliktachse bleiben. Er plädiert für Bürgerräte.
       
 (IMG) Bild: Teile der Berliner Mauer, Prenzlauer Berg 1990
       
       wochentaz: Viele Debattenbeiträge zu Ostdeutschland argumentieren
       inzwischen mit modischen Begriffen. So wenn etwa behauptet wird,
       „Ostdeutschland“ sei eine reine Diskurs-Konstruktion, mit der sich
       Westdeutschland lediglich seiner eigenen Identität vergewissere. Ist der
       Ostdeutschland-Diskurs im Fahrwasser des Postkolonialismus angekommen? 
       
       Steffen Mau: [1][Postkoloniale Theorie fungiert heute oft als Steinbruch],
       aus dem sich inzwischen auch viele beim Thema Ostdeutschland bedienen,
       beispielsweise durch den Rekurs auf das „Othering“ und den dominanten
       Westen. Andere Diskussionsbeiträge basieren aber vor allem auf
       Küchenpsychologie: wenn etwa behauptet wird, „die Ostdeutschen“ seien so
       sehr diktatur- oder transformationsgeschädigt, dass ihnen das Ankommen in
       der Demokratie einfach nicht gelingen könne.
       
       [2][Im identitätspolitischen Diskurs geht es zentral um die Frage: Wer
       gehört dazu?] Ist es möglich, ostdeutsch zu werden? 
       
       [3][Bei identitätspolitischen Fragen gerät man auch als Wissenschaftler
       sofort mitten in die politische Auseinandersetzung] um die Definition der
       jeweiligen Identität, ihre Umdeutung oder um Gruppengrenzen. Es ist daher
       schwierig, eine Definition von „ostdeutsch“ zu geben, die über einen
       „geteilten Erfahrungszusammenhang“ hinausgeht. Dirk Oschmanns Thesen
       kritisiere ich regelmäßig. In seinem Buch gibt es aber eine schöne
       Formulierung: Ostdeutsch ist nur, wer sich vom Spiegel-Titel „So isser, der
       Ossi“ irgendwie angesprochen fühlt.
       
       In jedem Fall ist „Ostdeutschland“ inzwischen viel stärker Thema im
       Diskurs. 
       
       In den 1990er Jahren galt „ostdeutsch“ noch als eine verschwindende
       Identität, die allenfalls noch mit antiquierter „Ostalgie“ und einer
       romantisierenden Erinnerung an die DDR einherging. In akademischen, linken
       Milieus gibt es inzwischen sogar Versuche, das Merkmal „ostdeutsch“
       aufgrund von existierenden Benachteiligungen in die Register
       intersektionaler Identitätspolitik aufzunehmen. So wie es etwa das Netzwerk
       „Dritte Generation Ost“ tut.
       
       Waren Sie etwa im Laufe ihrer akademischen Karriere mal mehr, mal weniger
       ostdeutsch? 
       
       Durch meine Publikationen wurde ich als Ostdeutscher sichtbar. Das ist
       natürlich auch Teil des Spiels mit Etikettierungen im Universitätskontext
       und auf dem Buchmarkt. Meine eigene Positionalität wurde bislang allerdings
       nur in Bezug auf Ostdeutschland thematisiert – bei meinen anderen
       Arbeitsschwerpunkten nicht.
       
       Liegt das auch am Westdeutschen als unsichtbare Norm im
       Ost-West-Verhältnis? 
       
       In der Tat gibt es keine kollektive Identifizierung als „westdeutsch“. Es
       ist ein typisches Muster in sozialen Verhältnissen, dass die größere Gruppe
       für die kleinere zur eigenen Identitätsgewinnung viel elementarer ist als
       umgekehrt. Westdeutschland bleibt für viele Ostdeutsche eine zentrale
       Referenz-Gesellschaft. Schon bei der Wiedervereinigung hatten viele
       Ostdeutsche eine stereotype, statische Vorstellung „vom Westen“ als
       Gesellschaft. Fragen von Einwanderung, Wertewandel oder die Einbindung ins
       internationale Geschehen waren eher nachrangig. Zu diesen Imaginationen und
       Projektionen kam es sicherlich auch, weil Ostdeutschland eine kulturell und
       sozial sehr viel homogenere Gesellschaft war: mit wenig Zuwanderung und
       einer stark ausgeprägten Mentalität der „kleinen Leute“.
       
       Sehen Sie das Potenzial, dass das Ost-West-Verhältnis in Zukunft stärker an
       Bedeutung gewinnt? 
       
       Die Ost-West-Verwerfung wird eine wichtige gesellschaftliche Konfliktachse
       bleiben. Auch nach über drei Jahrzehnten im Großen und Ganzen erfolgreicher
       Wiedervereinigung und trotz positiver ökonomischer Entwicklungen im Osten.
       Verbreitet ist inzwischen der Versuch, die Vorstellungen von Ostdeutschland
       anders zu besetzen und eine Art von kultureller Hegemonie zu beanspruchen.
       Rechte Polarisierungsunternehmer preisen den Osten daher als Gegenwelt zum
       verweichlichten, dekadenten, von Migration überschwemmten „Westen“.
       
       Eine klassische Externalisierung unerwünschter Anteile in der eigenen
       Gesellschaft … 
       
       … die aber reale Auswirkungen hat. Es ist wahrscheinlich, dass sich das
       Parteiensystem in Zukunft stärker entlang der Ost-West-Achse spaltet. Die
       Grünen und die FDP könnten sich mit aktuell sehr niedrigen Umfragewerten
       tendenziell zu Westparteien entwickeln. Umgekehrt dürfte die Linkspartei in
       den westlichen Bundesländern kaum mehr eine Rolle spielen. Das Bündnis
       Sahra Wagenknecht (BSW) hingegen wird nach bisherigem Stand wohl nur in
       Landtage in Ostdeutschland sicher einziehen, wo die AfD wiederum fast
       doppelt so großen Zuspruch erhält wie im Westen.
       
       In ihrem neuen Buch „Ungleich vereint“ gehen Sie davon aus, dass sich
       ostdeutsche Eigenheiten in der Sozialstruktur, Demografie und politischen
       Kultur verstetigen werden. Wie begünstigt das den Erfolg von Rechtsextremen
       und Populisten? 
       
       Die schematische, für den Populismus charakteristische Trennung zwischen
       dem „authentischen Volk“ und „den Eliten“ ist in Ostdeutschland eine
       verbreitete Interpretation der Welt. Aufgrund der geringen Repräsentation
       von Ostdeutschen in der gesamtgesellschaftlichen Elite lässt sich diese
       Wahrnehmung allerdings nicht immer leicht entkräften. Zudem erhöhen
       bestimmte sozialstrukturelle und demografische Charakteristika die
       Wahrscheinlichkeit, die AfD zu wählen: so etwa die stärkere Verbreitung von
       einfachen beruflichen Abschlüssen, ein geringerer Bildungsgrad oder ein
       gesellschaftlicher Männerüberschuss. Insgesamt ist dies alles ist in
       Ostdeutschland stärker ausgeprägt.
       
       Dazu kommt die Stärke von dezidiert rechten Milieus. 
       
       In Hannover mag eine Diskussion über eine „Brandmauer“ gegen rechts noch
       funktionieren. Aber in Sachsen etwa sind rechte Akteure und AfD-Wähler
       alltagsweltlich zu stark verankert. Es fällt vielen Menschen extrem schwer,
       Freunde, langjährige Kollegen oder Nachbarn politisch grundsätzlich zu
       kritisieren oder sogar sozial zu ächten. Auch die demokratische
       Zivilgesellschaft ist in Ostdeutschland schwächer ausgeprägt als in
       Westdeutschland.
       
       Kann man das allein der DDR anlasten? 
       
       In der DDR gab es de facto keine Zivilgesellschaft. Der vorpolitische
       Raum wurde bespielt durch die Blockparteien, die Massenorganisationen und
       die volkseigenen Betriebe. Das alles ist 1989 zusammengebrochen. In diesem
       Vakuum war für rechtspopulistische Akteure anderes möglich als im Westen.
       Im Westen wären sie mit ihren Aktivitäten auf viel mehr Widerstand der
       demokratischen Zivilgesellschaft gestoßen. Noch immer existieren in
       Ostdeutschland weniger Stiftungen, Bildungs- und Jugendprojekte als in
       Westdeutschland. Auch die Vereine agieren dort weniger demokratisierend und
       gesellschaftsgestaltend, sondern viele beschränken sich auf Geselligkeit
       und Traditionspflege.
       
       Zu jeder Pfadabhängigkeit gehört auch die Möglichkeit von Wendepunkten. Was
       braucht es, um der weiteren alltagsweltlichen Verankerung von
       Rechtsextremen und Populisten entgegenzuwirken? 
       
       Enorme mittel- und langfristige Lernprozesse. Die braucht es auch im
       Westen. Doch aufgrund der geringen Wahlbeteiligung und des niedrigeren
       Stellenwerts von politischen Parteien sind insbesondere im Osten andere
       Rezepte gefragt. Gerade dort müssen wir mehr politische Selbstwirksamkeit
       erzeugen. Die Einführung und Stärkung von Bürgerräten halte ich daher für
       eine interessante Idee: Ausgewählt über ein Losverfahren, setzen sich
       Bürger:innen über eine längeren Zeitraum und zusammen mit anderen mit
       politischen Fragestellungen auseinander und versuchen, konkrete
       Lösungsvorschläge auszuarbeiten.
       
       Woher nehmen Sie den Optimismus, dass das angesichts der starken
       Verbreitung rechter und populistischer Einstellungen in Ostdeutschland –
       zumindest anfangs – nicht nach hinten losgeht? 
       
       Mein Optimismus ist gedämpft. Die Forschung zeigt aber, dass sich in
       solchen Foren mit klaren Spielregeln und wechselseitigem Respekt als
       anerkanntem Grundwert Einstellungen und Umgangsformen ein Stück weit ändern
       können. Extreme Positionen werden häufiger eingehegt und gemäßigt. Auch
       weil die im größeren gesellschaftlichen Diskurs häufig so stille Mitte
       solche Kontexte stärker prägt als die sonst so lauten Ränder. Ein weiterer
       Vorteil: Die Bürgerräte würden durch das Moment der politischen Mitwirkung
       den Vorwurf entkräften, „die da oben“ würden ohnehin nur machen, „was sie
       wollen“. Und warum nicht Bürgerräte als dritte Kammer einführen? In
       Ergänzung und unter Einbezug von Bundestag und Bundesrat, wo drängende
       Fragen wie die der Klimakrise verhandelt werden?
       
       Haben Populisten wie das BSW die Forderung nach Bürgerräten schon mal
       aufgegriffen? 
       
       Mir ist das bislang nicht als dezidierte Positionierung bekannt, vermutlich
       gibt es aber keine klare Gegnerschaft. Generell pflegen Populisten aber die
       Vorstellung eines mehr oder weniger homogenen Volkes mit einem klaren
       Willen und einer authentischen Stimme. Bei den Bürgerräten geht es aber
       gerade nicht um reine Willensbekundung, sondern um Willensbildung in
       argumentativ offenen Prozessen der Deliberation. Dabei wird deutlich: Einen
       vorpolitischen und „authentischen Volkswillen“ gibt es nicht. Stattdessen
       werden Lernprozesse begünstigt. Meinungen und Präferenzen können sich
       ändern im Lichte von neuen Informationen und argumentativem Austausch. Das
       ist eine enorm wichtige politische und soziale Erfahrung.
       
       24 Jun 2024
       
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