# taz.de -- Europäische Migrationspolitik in Afrika: Stillgestanden, Flüchtling! Kehrt um!
       
       > Europa will mit mehr Hilfe in Afrika „Fluchtursachen bekämpfen“. Ein
       > zynisches Spiel: Es wird bezahlt, wenn Menschen festgehalten werden.
       
 (IMG) Bild: Im Mittelmeer Geretteter: Das einzelne Schicksal interessiert die EU nicht
       
       BERLIN taz | Gut 700.000 Menschen kamen zwischen 2010 und 2015 aus Afrika
       als Asylbewerber in Länder der Europäischen Union. Die Zahlen pro Jahr
       steigen rapide: Zwischen 2010 und 2015 um 260 Prozent. Für 2016 schreibt
       die Internationale Organisation für Migration in ihrem jüngsten Bericht
       über Trends der Zuwanderung nach Europa: „Die Zahl der Migranten aus
       Syrien, Irak und Afghanistan geht zurück; die derer aus Afrika nimmt zu.“
       
       Bis 2050 wird sich die Bevölkerung Afrikas mehr als verdoppeln. „Dramatisch
       zunehmen“ könnte die Migration aus Afrika, sagte der deutsche
       Entwicklungsminister Gerd Müller (CSU) kürzlich.
       
       Auf dem EU-Gipfel diese Woche war Migration aus Afrika Thema Nummer eins.
       Eine neue „Flüchtlingskrise“ wie im Jahr 2015 will die EU unbedingt
       vermeiden, allein schon um des eigenen Zusammenhalts willen und um dem
       Druck der Rechtspopulisten zu begegnen. Eine Situation wie 2015 „kann, soll
       und darf“ sich nicht wiederholen, sagte Merkel kürzlich auf dem
       CDU-Parteitag.
       
       Bei der Formulierung der neuen EU-Afrikapolitik steht Deutschland an
       vorderster Front. Im vergangenen Oktober reiste Merkel zum ersten Mal seit
       2011 wieder nach Afrika, danach kamen eine ganze Reihe von afrikanischen
       Staatschefs und Delegationen nach Berlin. Ähnliches spielte sich in Brüssel
       ab. So viel Aufmerksamkeit bekam der Kontinent nicht mal während der
       Ebola-Krise. Und in der am 1. Dezember begonnenen deutschen Präsidentschaft
       der G-20-Staatengruppe heißt eine Säule des Programms der Bundesregierung:
       „Verantwortung übernehmen – besonders für Afrika.“
       
       Die neue Afrika-Politik der EU nahm ihren Anfang auf dem Höhepunkt der
       Syrien-Flüchtlingskrise. Am 11. und 12. November 2015 lud die EU die
       Afrikanische Union (AU) zum Migrationsgipfel nach Valletta auf der
       Mittelmeerinsel Malta. Sie legte einen 1,8 Milliarden Euro schweren
       „Nothilfe-Treuhandfond für Afrika“ auf. Der EU-Fonds werde die Ursachen von
       „Destabilisierung, Zwangsvertreibung und irregulärer Migration“ angehen,
       indem er Wirtschaft und Entwicklung Afrikas stärke, steht im
       Valletta-Aktionsplan.
       
       ## Ein Etikettenschwindel
       
       Afrikas Regierungen gelobten in Valletta „gemeinsame Anstrengungen im Kampf
       gegen die irreguläre Migration“. Den Milliardenfonds indes hielten sie
       zurecht für Etikettenschwindel: Der Löwenanteil der Gelder war längst als
       Entwicklungshilfe im EU-Haushalt eingestellt. Allzu bereitwillig auf die
       Wünsche der EU einzugehen, kam ohnehin nicht in Frage: Rücküberweisungen
       von Migranten aus Europa nach Afrika sind zu wichtig, Abschiebungen beim
       eigenen Volk unbeliebt.
       
       So geschah zunächst wenig. Nach einem halben Jahr setzte die EU den
       afrikanischen „Partnern“ die Pistole auf die Brust. „Sämtliche
       Politikmaßnahmen- und Instrumente, die der EU zur Verfügung stehen“, hieß
       es in einem Papier der EU-Kommission vom 7. Juni 2016, sollten genutzt
       werden, um „konkrete Ergebnisse“ in der „Migrationssteuerung“ zu erzielen.
       
       Der sozialdemokratische EU-Kommissionsvizepräsident Frans Timmermans aus
       den Niederlanden beschrieb an diesem Tag dem EU-Parlament die Linie der
       neuen Afrikapolitik: Eine „Mischung aus positiven und negativen Anreizen“.
       Drittländer, die „effektiv“ mit der EU zusammenarbeiten, seien zu
       „belohnen“, für die anderen solle es „Konsequenzen geben“. Zuckerbrot und
       Peitsche also. Jenen, die mitmachen, stellte die EU insgesamt acht
       Milliarden Euro bis Ende des Jahrzehnts in Aussicht. Das Ziel: „Ordnung in
       die Migrationsströme“ bringen.
       
       ## Negative Anreize
       
       Die EU will zweierlei: Es sollen weniger Migranten ankommen. Und wer
       ankommt, soll schneller wieder abgeschoben werden. „Konkrete und messbare
       Ergebnisse bei der zügigen Rückführung irregulärer Migranten“ verlangte der
       EU-Rat am 28. Juni, als diese neue Politik formell beschlossen wurde, und
       noch einmal am 21. Oktober. Liefern afrikanische Länder keine „konkreten
       Ergebnisse bei einer besseren Steuerung der Migration“, werden „Engagement
       und Hilfe angepasst“.
       
       Wer nicht liefert, soll nicht nur Hilfszahlungen, sondern auch Marktzugänge
       verlieren. „Erzeugung und Nutzung der erforderlichen Hebelwirkung unter
       Einsatz aller einschlägigen – auch entwicklungs- und handelspolitischen –
       Maßnahmen, Instrumente und Hilfsmittel der EU“ wird das genannt.
       
       Ein Instrument ist die Stimulation von Privatinvestitionen. Aus ihrem
       Entwicklungsbudget will die EU drei Milliarden Euro abzweigen, die
       Mitgliedsstaaten sollen dasselbe drauflegen. Europäische Unternehmen sollen
       dadurch in die Lage versetzt werden, bis 2020 sagenhafte 62 Milliarden Euro
       zusätzlich in Afrika zu investieren – jedenfalls in den Ländern, die beim
       Grenzschutz mitmachen. „Eine ambitionierte Investitionsoffensive für
       Drittländer, die dazu beitragen wird, Chancen zu eröffnen und die
       Migrationsursachen zu bekämpfen“, nannte dies Timmermans im Juni. Die
       Investitionen sollen Jobs schaffen und Menschen in Afrika halten.
       
       „Das sind Gelder der Entwicklungszusammenarbeit, die jetzt für
       Wirtschaftsförderung hergenommen werden“, kritisiert Inge Brees von der NGO
       CARE in Brüssel. Es werde nicht überprüft, ob diese Projekte der
       Entwicklung dienen – etwa ob Arbeitnehmer- und Menschenrechte gewahrt
       werden. Vor allem aber konzentriert sich die Hilfe auf Länder, die für die
       Migrationskontrolle interessant sind – und fehlt entsprechend woanders.
       „Das Geld ist nicht vom Himmel gefallen“, sagt Brees. „Das hätte sonst auch
       für andere Krisen zur Verfügung gestanden.“
       
       ## Vorbild Türkei-Deal
       
       Das Gleiche gilt für den mittlerweile auf 2,5 Milliarden Euro angewachsenen
       Treuhandfonds für Afrika (EUTF). Auch darin stecken vor allem noch nicht
       verplante Mittel des EU-Entwicklungsbudgets. Jetzt will der Rat den Fonds
       noch aufstocken.
       
       Geld gegen Flüchtlingsstopp – der milliardenschwere „EU-Türkei-Deal“ steht
       für diese Praxis Modell. Dass die meisten Afrikaner, die sich auf den Weg
       nach Europa machen, vor ihren eigenen Regimen fliehen – vor dieser
       Erkenntnis drückt Brüssel beide Augen zu, im Gegenteil: Die EU reicht nicht
       nur demokratischen Regierungen, sondern auch Diktatoren die Hand, damit sie
       die Flüchtlingsströme unterbinden.
       
       Nach Zählung der taz haben die EU und deren Mitgliedsstaaten zwischen 2000
       und 2015 mindestens 1,913 Milliarden Euro an Länder in Afrika gezahlt,
       damit sie Flüchtlinge aufhalten. Nicht eingerechnet ist der
       Berlusconi-Gaddafi-Flüchtlingsdeal aus dem Jahr 2008, in dem Italien Libyen
       fünf Milliarden Euro zusagte – es flossen wohl nur 250 Millionen.
       
       Vermutlich liegt die tatsächliche Gesamtsumme weit höher, denn fast nie
       steht auf den entsprechenden Abkommen das Wort „Flüchtlingsstopp“. Meist
       läuft es so wie im Januar 2007, als Spaniens König Juan Carlos den
       Präsidenten von Mali, Amadou Toumani Touré, zum Mittagessen bat. Spanien
       hatte den Sahelstaat bis dahin weitgehend ignoriert. Doch als immer mehr
       Westafrikaner über Mali in Richtung der spanischen Afrika-Exklaven Ceuta
       und Melilla sowie der Kanarischen Inseln zogen, unterschrieb Touré nach dem
       Mittagessen zwei Abkommen. Das erste bescherte Mali bis Ende 2011 103
       Millionen Euro Entwicklungshilfe. Mit dem zweiten gelobte Touré „effektive
       Zusammenarbeit“ bei der Grenzkontrolle – und keine Schwierigkeiten zu
       machen, wenn Spanien Malier abschieben will.
       
       ## EU-weit harmonisierte Erpressung
       
       So kaufte Spaniens Regierung seinerzeit halb Westafrika ein. Mit Erfolg: In
       den Jahren danach kamen kaum noch afrikanische Flüchtlinge auf den Kanaren
       an. Andere Länder guckten sich das ab. Die Niederlande strichen Ghana 2007
       rund 10 Millionen Euro Entwicklungshilfe, weil die Regierung Abzuschiebende
       nicht zurücknehmen wollte.
       
       Das waren nur punktuelle Maßnahmen. 2010 aber gründete die EU ihren
       „Auswärtigen Dienst“ (EAD). Sie eröffnete Vertretung um Vertretung, selbst
       in der abgeschotteten Diktatur Eritrea, das Hauptherkunftsland
       afrikanischer Flüchtlinge in Europa. Die selbstbewusste Außenbeauftragte
       Federica Mogherini, die aus dem von der Migration aus Afrika am stärksten
       betroffenen Italien kommt, will Außenpolitik machen, als sei die EU selbst
       ein Staat. Migrationskontrolle ist dabei eines der wichtigsten Ziele.
       
       Seit Monaten verhandelt die EU mit Hochdruck über „Compacts“ genannte
       „maßgeschneiderte“ Länderpakete – bislang mit Libanon, Jordanien sowie fünf
       „Prioritätsstaaten“ in Afrika: Senegal, Mali, Nigeria, Niger und Äthiopien.
       Was da genau passiert, ist unklar. So wurde am 11. Dezember gemeldet, dass
       der niederländische Außenminister Bert Koenders im EU-Auftrag und sein
       Amtskollege Abdoulaye Diop aus Mali ein Rücknahmeabkommen für abgelehnte
       malische Asylbewerber unterzeichnet hätten. Mali wäre der erste Staat auf
       dem afrikanischen Festland, der sich auf einen solchen Vertrag mit der EU
       einlässt – bisher gibt es nur eines mit Kap Verde.
       
       Malis Außenminister Diop dementierte umgehend: es sei kein
       Rücknahmeabkommen unterzeichnet worden, entsprechende Meldungen seien
       „Lüge“. Es seien lediglich im Rahmen des Migrationsdialoges mit der EU neun
       Projekte im Umfang von 145 Millionen Euro für Mali vereinbart worden. Der
       Dialog werde im kommenden September fortgesetzt. Bereits im Februar hatte
       der Auswärtige Dienst der EU in einem als „geheim“ eingestuften
       Strategiepapier zu Mali notiert: „Die Regierung ist gegen
       Rücknahmeabkommen.“
       
       ## Gespräche „mit Preisschild“
       
       Verhandlungen über weitere Abkommen laufen mit Nigeria und Tunesien sowie
       Äthiopien, Niger und Senegal. Ob noch zusätzliche Länder dazukommen und zu
       welchen Bedingungen, ist umstritten. Laut einem internen Papier der
       deutschen Bundesregierung im Vorlauf des EU-Gipfels dieser Woche, das der
       taz vorliegt, ist der Auswärtige Dienst der EU der Auffassung, „in jedem
       Fall müsse die Aufnahme weiterer Partnerschaftsländer mit der
       Zurverfügungstellung zusätzlicher Finanzmittel einhergehen“. Aber Berlin
       sei da skeptisch: Eine „zwingende Verknüpfung“ dieser Art halte man für „zu
       weitgehend“; man solle „Verhandlungen mit Drittstaaten“ nicht von
       vornherein „mit Preisschild versehen“.
       
       Erst mal geht es darum, was die EU von den afrikanischen Staaten will. In
       einem Strategiepapier vom März 2016 zu Äthiopien verlangt die EU, dass die
       Regierung in Addis Abeba die „Sekundärbewegung aus Flüchtlingslagern in
       Äthiopien in Richtung Europa“ drückt. Nigeria, bislang Hauptumschlagplatz
       für Passfälscher, soll stärker gegen Schlepper und Dokumentenfälscher
       vorgehen und die stockende Einführung biometrischer Ausweise vorantreiben,
       so ein Kommissionspapier vom Februar 2016.
       
       Als Nigerias Präsident Muhammadu Buhari im Oktober 2016 nach Berlin kam,
       betonte Bundeskanzlerin Merkel: „Wer kein Aufenthaltsrecht in Deutschland
       hat – das sind 92 Prozent der Menschen aus Nigeria, die zu uns kommen –,
       muss wieder zurückkehren.“
       
       Abschiebungen sind immer das wichtigste Thema. Aus europäischer Sicht
       geschehen sie viel zu selten. 470.000 Menschen wurden 2014 aus der EU
       ausgewiesen – aber abgeschoben wurden im selben Zeitraum nur 169.000;
       neuere Gesamtzahlen liegen nicht vor.
       
       ## An Parlamenten vorbei
       
       Der Grund für die große Differenz: Meist fehlt ein Reisepass. Fehlende
       Dokumente seien „nach wie vor das quantitativ bedeutendste Problem“ bei
       Abschiebungen, heißt es in einer Evaluation der Bund-Länder-AG
       Rückführungen. Dann müssen Ausländerbehörden die Staatsangehörigkeit
       ermitteln und bei der Botschaft einen Pass besorgen. Aber die Botschaften
       spielen oft nicht mit.
       
       Die bisherigen bilateralen Rücknahmeabkommen mit einigen afrikanischen
       Ländern haben da nicht viel gebracht. Die neuen Verträge sollen das ändern.
       Damit das in Menschenrechtsfragen etwas sensiblere EU-Parlament nicht
       dazwischenfunkt, will die EU am liebsten informelle Vereinbarungen, denen
       das Parlament nicht zustimmen muss.
       
       Schon von den 60 Abkommen zu Abschiebefragen, die Deutschland,
       Großbritannien, Italien, Frankreich und Spanien mit afrikanischen Ländern
       abgeschlossen haben, sind nur acht formale Rücknahmeabkommen. Beim Rest
       handelt es sich um undurchsichtige Absprachen, oft zwischen
       Polizeibehörden, etwa Italiens nicht einmal dem eigenen Parlament
       offengelegte „Memoranden“ mit Senegal, der Elfenbeinküste, Nigeria oder
       Niger.
       
       Eine Allzweckwaffe will die EU in die Compacts hineinverhandeln: die
       sogenannten Laissez-Passers. Die „Passierscheine“ sind Reisedokumente,
       gültig nur für eine Abschiebung. Der Clou: Nicht die Botschaft des
       mutmaßlichen Herkunftslandes stellt ihn aus, sondern der EU-Staat, der
       abschieben will. Als „Empfehlung“ kennt die EU die Laissez-Passers seit
       1994, aber bislang hat kaum ein afrikanisches Land sie regulär anerkannt.
       Das will die Kommission jetzt erzwingen. Sie fordert damit von den
       afrikanischen Ländern einen Verzicht auf die Prüfung der Staatsbürgerschaft
       – und somit die Aufgabe eines Teils staatlicher Souveränität.
       
       Für die Partnerstaaten ist das nicht ohne Risiko. Leicht können abgelehnte
       Flüchtlinge irgendwo in Europa zu Bürgern eines Landes erklärt werden, das
       solche Papiere akzeptiert – egal wo die Leute wirklich herkommen. Ende
       Oktober beschloss das EU-Parlament per Verordnung die verbindliche
       Einführung der Laissez-Passers. Am 8. April 2017 tritt diese in Kraft.
       
       ## Kontrolle statt Schließung
       
       Die Frage, welche Menschen wo hingehören, wird damit heikel. Innerhalb
       weiter Teile Afrikas sind Reisen zwischen Nachbarländern bislang
       vergleichsweise einfach, die „afrikanische Integration“ ist erklärtes Ziel
       aller afrikanischen Regierungen und Regionalorganisationen. Offiziell wird
       das von Europa unterstützt. Aber die Politik Europas bewirkt das Gegenteil.
       Es entsteht nun ein immer dichteres Netz von Kontrollmechanismen, die die
       Bewegungsfreiheit schleichend einschränken.
       
       Bei der EU-Kommission heißt es, sie wolle keinesfalls die inneren Grenzen
       Afrika schließen. Diese sollen nur besser kontrolliert werden. Wer sich
       ausweisen könne, werde weiter durchgelassen. Doch das ist nur die halbe
       Wahrheit.
       
       Eine wichtige Transsahararoute verläuft durch den Nordosten Malis. An der
       Grenze zu Niger herrscht Freizügigkeit für Westafrikaner. Doch Nigers
       Polizei am Grenzposten in Yassan weist neuerdings immer mehr Reisende ab.
       „Dies betrifft malische Staatsbürger und in noch deutlich schärferem Ausmaß
       Personen aus anderen Ländern Westafrikas“, sagt Éric Alain Kamden, seit
       2009 für Caritas vor Ort. Für Personen aus Staaten wie Ghana, Sierra Leone
       oder der Elfenbeinküste, von denen angenommen wird, sie seien unterwegs
       nach Europa, gibt es laut eines Kommissars in Yassan die Dienstanweisung,
       sie gar nicht mehr durchzulassen. Von anderen Grenzen der Region ist
       ähnliches zu hören. Die traditionelle, für Westafrika so wichtige Migration
       wird erschwert.
       
       ## Keinen falschen Eindruck wecken
       
       Wie könnte ein wohlgeordneter Migrationskorridor von Westafrika nach Europa
       aussehen? 2008 hat der damalige EU-Entwicklungskommissar Louis Michel es
       versucht. Er eröffnete ein „EU-Jobcenter“ in Malis Hauptstadt Bamako.
       Arbeitssuchende Malier sollten sich dort direkt auf freie Stellen in Europa
       bewerben können, im Erfolgsfall winkte ein Visum. Das Projekt scheiterte
       grandios: Die EU selbst durfte keine Arbeitsvisa erteilen – und die
       Mitgliedsstaaten wollten nicht.
       
       Daran hat sich bis heute nichts geändert. In allen Papieren zur neuen
       Afrika-Partnerschaft ist zwar die Rede von der „Schaffung legaler Wege“.
       Doch die fallen in den Compacts äußerst mickrig aus. Von „mehr Plätzen für
       Studenten, Forscher und Dozenten“ im Stipendienprogramm „Erasmus+“ ist in
       den Entwürfen die Rede. Mehr nicht. Der Rat will unbedingt alles vermeiden,
       was den Eindruck erweckt, mehr Zuwanderung sei willkommen. Wer in Europa
       arbeiten will, muss auch in Zukunft meist den lebensgefährlichen Weg über
       das Meer nehmen und sich danach als Asylsuchender ausgeben.
       
       Sofern er überhaupt so weit kommt. Der einfachste Weg, Flüchtlinge und
       Migranten noch in Afrika aufzuhalten, ist, sie einzusperren. Das Genfer
       Global Detention Project zählt aktuell in Libyen 33
       Internierungseinrichtungen für Migranten, in Marokko 16, in Senegal fünf,
       in Tunesien zwei, in Mauretanien eines – letzteres von Spanien errichtet.
       
       ## Folter und Zwangsarbeit
       
       In vielen Lagern Libyens herrsche „schwere Überfüllung, Mangel an Licht und
       an Frischluft“, heißt es in einem Mitte Dezember veröffentlichen
       gemeinsamen Untersuchungsbericht der UN-Menschenrechtskommission und der
       UN-Mission in Libyen. Oft gebe es keinerlei sanitäre Einrichtungen.
       Durchfall und Atemwegserkrankungen seien verbreitet, es mangele an Wasser,
       Nahrung und medizinischer Versorgung.
       
       „Wir schwarzen Afrikaner werden Tiere genannt und auch so behandelt“,
       erzählte den UN-Ermittlern ein 16-jähriger Eritreer, der im Sommer 2016
       sechs Wochen lang mit rund 200 anderen Migranten in einem fensterlosen
       Metallhangar in der libyschen Hauptstadt Tripoli saß. Andere erzählten von
       Folter, Zwangsarbeit und sexuellen Übergriffen.
       
       Lösegeldforderungen steigen stetig an, berichtet Meron Estefanos,
       Direktorin der Eritreischen Initiative für Flüchtlingsrechte (ERRI), eine
       Exil-NGO in Schweden. Bis zu 15.000 Dollar verlangen die Entführer pro
       Person von deren Familien, bezahlt wird per mobilem Geldtransfer.
       
       Die Praxis der Internierung stammt aus der Zeit des Deals zwischen
       Berlusconi und Gaddafi. Nach dessen Sturz 2011 übernahmen Milizen die
       Knäste. Laut dem UN-Bericht unterhält die zuständige Abteilung des
       libyschen Innenministeriums derzeit 24 Internierungszentren mit 4.000 bis
       7.000 Insassen. Es gebe weitere Lager anderer Behörden und Milizen. Nach
       Schätzung der EU sind sogar sieben Prozent der über eine Millionen
       Migranten und Flüchtlinge in Libyen in Lagern eingesperrt – das wären rund
       77.000 Personen. Die EU eruiert derzeit, welches Lager nach EU-Standards
       umgebaut werden kann.
       
       ## Horror im Migrantenknast
       
       Ägypten, das Deutschland als Prioritätsland für eine
       EU-Migrationspartnerschaft ins Spiel gebracht hat, betreibt gar 64
       Migrantenknäste – und ist zugleich Partner des Projektes „Better Migration
       Management“ der deutschen Entwicklungsagentur GIZ (Gesellschaft für
       Internationale Zusammenarbeit). Das Projekt soll Grenzpolizeien für eine
       „menschenrechtsgerechte Praxis“ beraten. Auf Ägypten einwirken, damit das
       Militär dort seine Flüchtlingsknäste schließt, könne die GIZ aber nicht,
       heißt es.
       
       Stolz berichtet die GIZ allerdings, wie sie dem wegen mutmaßlichen
       Völkermordes in Sudans Westregion Darfur international per Haftbefehl
       gesuchten sudanesischen Präsidenten Omar Hassan al-Bashir den Wunsch nach
       Bau von Internierungszellen und Militärgerät abschlug. Ansonsten aber ist
       die EU zur Kooperation mit Bashir entschlossen. Sie erwägt für Sudan die
       Erlassung aller Schulden, will sich bei den USA für die Streichung des
       Landes von der US-Terrorliste einsetzen und bei der Welthandelsorganisation
       für neue Gespräche.
       
       Sudan ist nicht die einzige Diktatur, mit der die EU sich zum Zweck der
       Migrationsabwehr einlässt. Äthiopien, wo seit einem Jahr Hunderte von
       Menschen beim Niederschlagen von Protesten getötet worden sind, konnte sich
       in der ersten, gerade beendeten Vergaberunde des EU-Treuhandfonds über
       Projekte in Höhe von 110 Millionen Euro freuen.
       
       Eritrea, eine der schlimmsten Diktaturen der Welt, ist zwar anders als
       Äthiopien kein Partner der deutschen Entwicklungszusammenarbeit. Vom
       „Better Migration Management“-Programm profitiert es wohl trotzdem: Die
       Ausbildung eritreischer Beamter komme zwar nicht im eigenen Land in Frage,
       heißt es bei der GIZ, aber in Nachbarstaaten. Der EU-Delegationschef in
       Asmara, Christian Manahl, sagt der taz, auch Ausbildung in Eritrea selbst
       sei in Zukunft nicht ausgeschlossen.
       
       15 Dec 2016
       
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       An der spanischen Grenze spielen sich Tragödien ab. Aus Angst vor den
       Rechten vergessen wir, dass es in der Migrationsdebatte um Menschen geht.
       
 (DIR) Grenzzaun in Ceuta: Erneut erfolgreiche Flucht in die EU
       
       Rund 300 Migranten überwanden die sechs Meter hohe Absperrung in der
       spanischen Enklave. „Ich bin in Europa“, riefen die Geflüchteten nach ihrer
       Ankunft.
       
 (DIR) Widerstand gegen Grenzzaun in Ceuta: Hunderte flüchten in die EU
       
       Bis zu 500 Menschen haben es geschafft, den Grenzzaun in der spanischen
       Enklave zu überwinden. Einige Geflüchtete und Polizisten wurden dabei
       verletzt.
       
 (DIR) EU-Afrika-Gipfel: Geld bieten und Übel androhen
       
       Seit 2015 versucht die EU, afrikanische Staaten zu Ko-Grenzschützern zu
       machen. Sich weigernde Länder werden massiv unter Druck gesetzt.
       
 (DIR) Sondergipfel der EU in Valletta: EU jetzt wasserdicht
       
       Die Staatschefs der EU-Mitgliedsstaaten beschließen einen 10-Punkte-Plan:
       Afrikanische Flüchtlinge sollen nicht mehr aus Libyen nach Europa kommen.
       
 (DIR) Kommentar Merkels Treffen mit Erdoğan: Verrat an türkischen Demokraten
       
       Die deutsche Kanzlerin legitimiert den türkischen Präsidenten. Das ist der
       Preis dafür, dass Flüchtlinge die Türkei im Wahljahr nicht verlassen.
       
 (DIR) Entwicklungshilfe für Afrika: Wachstum als Exportgut
       
       Minister Müller stellt seinen „Marshallplan mit Afrika“ vor. Er will vor
       allem auf mehr private Investitionen setzen. Das schmeckt den NGOs nur
       bedingt.
       
 (DIR) Vor der libyschen Küste: Flüchtlingsboot gekentert
       
       Die italienische Küstenwache berichtet, dass vier Überlebende und acht
       Leichen geborgen wurden. Es ist bereits der zweite Einsatz innerhalb
       weniger Tage.
       
 (DIR) Debatte Rücknahme von Asylbewerbern: Stabilität mit der Peitsche
       
       Entwicklungsminister Müller warnt die SPD – Gabriel und Maas ergehen sich
       geradezu in Bestrafungsfantasien für die Maghreb-Staaten. Was ist da los?
       
 (DIR) Spanische Exklave Ceuta: Grenzzäune erfüllen ihren Zweck
       
       An Silvester versuchten mehr als tausend Menschen, von Marokko auf
       spanischen Boden zu gelangen. Doch keiner der Zaunkletterer schaffte es auf
       die andere Seite.
       
 (DIR) Aus der EU abgeschobene Asylbewerber: Mali lehnt Rückführungen ab
       
       EU-Staaten versuchen, abgelehnte Asylbewerber auch ohne gültige Papiere
       abzuschieben. Mali hat nun zwei Menschen direkt zurück nach Frankreich
       geschickt.
       
 (DIR) Kommentar Merkel und linke Kritik: Anstand schlägt Affekt
       
       Mit Merkel geht doch noch was. Das kann die gesellschaftliche Linke aus der
       Debatte über den Anschlag von Berlin lernen.
       
 (DIR) Tote auf der Flüchtlingsroute: Mehr als 5.000 starben im Mittelmeer
       
       Das Jahr 2016 erreicht eine traurige Rekordzahl. Durchschnittlich kamen
       demnach in diesem Jahr 14 Geflohene pro Tag im Mittelmeer ums Leben.
       
 (DIR) Kommentar Flucht aus Maghreb-Staaten: Gescheiterte Armutsmigration
       
       In Tunesien ist der Gedanke an Flucht längst ein Teil der Jugendkultur
       geworden. Die kümmert sich nur wenig um Obergrenzen und Abkommen.
       
 (DIR) Terrorfinanzierung und Grenzkontrollen: Keine Reaktion auf Breitscheidplatz
       
       Die EU-Kommission schlägt Verbesserungen zum Schutz der Außengrenzen vor.
       Auch die Terrorfinanzierung soll schwerer werden. Das sei schon lange
       geplant gewesen.
       
 (DIR) Flucht nach Europa: Frontex-Chef fordert legale Wege
       
       Seit Jahresbeginn sind rund 5.000 Flüchtlinge im Mittelmeer ertrunken.
       Fabrice Leggeri von der EU-Grenzschutzagentur schlägt Kontingente vor.
       
 (DIR) EU-Gipfel in Brüssel: Sackgasse Aleppo
       
       Der Bürgermeister von Ost-Aleppo berichtet von Gräueln. Merkel wirft Iran
       und Russland Vergehen in Syrien und dem UN-Sicherheitsrat Versagen vor.
       
 (DIR) Europas Grenzen in Afrika: Über den Zaun hinaus
       
       Die EU baut Frontex zu einer Full-Service-Agentur um. Dabei arbeitet sie
       mit zwielichtigen Regierungen zusammen.
       
 (DIR) Removal without paperwork: The future of deportations
       
       Any papers as required: the EU is increasingly pushing countries to leave
       Africa from a country other than their country of origin.
       
 (DIR) Zwangsrückführung ohne gültige Papiere: Die Zukunft der Abschiebungen
       
       Beliebige Papiere nach Bedarf: Immer öfter schiebt die EU
       Ausreiseverpflichtete aus Afrika in ein anderes als ihr Herkunftsland ab.
       
 (DIR) EU-Migrationspolitik in Afrika: Zwischen Hilfe und Bevormundung
       
       Drei Städte stehen für EU-Migrationspolitik in Afrika, Rabat, Karthum und
       Valetta. Dort wurde über Geld und Gegenleistung verhandelt.
       
 (DIR) Kommentar Fluchtgründe in Afrika: Die Hoffnung stirbt zuletzt
       
       Unser Autor stammt aus Äthiopien. Seit Jahren lebt er im Exil. Er glaubt,
       dass die Repression Menschen außer Landes treibt.
       
 (DIR) ECOWAS-Beamter über EU und Migration: „Man kriminalisiert Migration“
       
       Die westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft bleibt bei Verhandlungen
       zwischen EU und regionalen Staaten zur Migrationskontrolle außen vor,
       beklagt Sanoh N’Fally.