# taz.de -- Antisemitismus-Debatte in Deutschland: Ausweitung der Tabuzone
       
       > Die deutsche Definition von „Antisemitismus“ schadet einer offenen
       > Debatte – und grenzt ausländische und jüdische Künstler und
       > Intellektuelle aus.
       
 (IMG) Bild: Filmfestspiele Berlin, 24. Februar: Preisverleihung für den Film „No other Land“ der Regisseure Basel Adra and Yuval Abraham
       
       „Das Ghetto wird liquidiert“, schrieb Masha Gessen mit Blick auf Israels
       Kriegsführung in Gaza. Hierzulande sorgte dieser Satz in einem Essay, der
       im Magazin New Yorker erschien, für einen [1][Eklat]. Denn in Deutschland
       hat man sehr weitreichende Vorstellungen davon, was man in Bezug auf Israel
       alles nicht sagen darf.
       
       Der Meinungskorridor wird deshalb immer enger – und es könnte noch
       schlimmer kommen, wenn Kulturstaatsministerin Claudia Roth vor dem Druck
       einknickt, der [2][nach der Berlinale] wieder zugenommen hat. Dass der
       israelische Botschafter Ron Prosor sie und die Kulturminister jetzt dafür
       lobte, dass sie die Kunstförderung unter „Antisemitismus“-Vorbehalt stellen
       wollen, ist ein schlechtes Zeichen.
       
       Seit 2017 stützt sich Deutschland auf eine Antisemitismus-Definition, die
       von der israelischen Regierung propagiert wird. Sie wurde 2016 von der
       International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) beschlossen. Kritiker
       monieren, dass sie berechtigte Kritik an Israel als antisemitisch
       abstempelt, und fürchten, dass sie der Willkür von Behörden Tür und Tor
       öffnet. Misstrauisch stimmen sollte, dass Donald Trump und Viktor Orbán die
       IHRA-Definition freudig übernommen haben.
       
       Wer, wie Gessen, Israels Vorgehen mit NS-Verbrechen vergleicht, der handelt
       laut IHRA-Definition antisemitisch, Punkt. Gessen stammt aus einer
       jüdischen Familie von Holocaust-Überlebenden und wollte nicht deutsche
       Nazi-Verbrechen verharmlosen, sondern [3][israelische Kriegsverbrechen
       skandalisieren]. Doch über solche Unterschiede geht die IHRA-Definition
       plump hinweg. Überwiegend jüdische Autoren und Experten verfassten deshalb
       2021 als Gegenentwurf die „[4][Jerusalemer Erklärung]“ – eine Definition,
       die Kritik an Israel und Antisemitismus strikt unterscheidet.
       
       ## NS-Vergleiche sind nicht per se tabu
       
       In Deutschland hat die IHRA-Definition inzwischen quasi amtlichen Status
       erlangt. Die Bundesregierung empfiehlt, sie in der Schul- und
       Erwachsenenbildung, in Justiz, Verwaltung und Polizei einzusetzen, die
       Hochschulrektorenkonferenz übernahm sie vor fünf Jahren. Auf Grundlage der
       IHRA-Definition verabschiedete der Bundestag 2019 seine umstrittene
       BDS-Resolution. Boykott-Aufrufe gegen Israel erinnerten an „die
       schrecklichste Phase der deutschen Geschichte“, hieß es damals – ein
       NS-Vergleich, der bemerkenswerterweise kaum auf Kritik stieß.
       
       Denn NS-Vergleiche sind in Deutschland nicht per se tabu. Werden Putin oder
       Erdoğan mit Hitler verglichen, sind wenige empört. Wenn Israels Premier
       Netanjahu die Hamas mit Nazis gleichsetzt, sich Israels UN-Botschafter
       einen Judenstern anheftet oder der israelische Armeesprecher das
       Hamas-Massaker als [5][„Mini-Holocaust“] bezeichnet, finden sie hierzulande
       sogar Fürsprecher.
       
       Diese Doppelstandards haben zugenommen. Bundesinnenministerin Nancy Faeser
       ließ den palästinensischen Slogan „From the River to the Sea“ verbieten,
       Grünen-Chef Robert Habeck nannte ihn gar eine „Auslöschungsfantasie“. Die
       Zahl der registrierten antisemitischen Straftaten ist auch deshalb stark
       angestiegen, weil die Behörden angehalten sind, solche Slogans strikt zu
       verfolgen. Aber was ist dann die fast gleich lautende Formulierung im
       Gründungsprogramm von Netanjahus Likud-Partei, in der diese seit 1977 den
       Anspruch auf ein Großisrael vom Mittelmeer bis zum Jordan erhebt?
       
       ## Welche Worte sind noch gestattet?
       
       Die deutsche Dauerempörung über politisch angeblich inkorrekte Kritik an
       Israel führt dazu, dass die Tabuzone immer größer wird. Ruft jemand auf
       einer Demonstration „Kindermörder Israel“, holen manche gleich die Polizei.
       Aber welche Worte sind angemessen, um Israels Vorgehen im Gazastreifen
       anzuprangern, das mehr Kinder das Leben gekostet hat als alle anderen
       Kriege der letzten vier Jahre zusammen? Die Zerstörung von Gaza ist
       beispiellos. Aber wehe, jemand nennt das einen „Vernichtungskrieg“!
       
       Neuerdings [6][behaupten manche sogar], rote Handflächen – ein universelles
       Symbol dafür, dass jemand „Blut an den Händen“ hat – bedeuteten in Israel
       etwas ganz anderes als im Rest der Welt. Dieser Unsinn wird selbst von
       seriösen Feuilletonisten verbreitet.
       
       ## Kulturell-intellektuelle Provinzialisierung
       
       Die Deutschen haben den Ruf, ein Volk der Oberlehrer und
       [7][Gesinnungspolizisten] zu sein. Eifernde „Antisemitismus“-Jäger wie
       Volker Beck bestätigen dieses Klischee. In der Kulturszene hat das zu einem
       Klima der Angst und (Selbst-)Zensur geführt. Sie trifft vor allem
       ausländische – und sehr oft jüdische – Künstler und Intellektuelle.
       
       Das Saarlandmuseum sagte eine für 2024 geplante Ausstellung der jüdischen
       Künstlerin [8][Candice Breitz aus Südafrika] ab. Eine Vortragstour der
       88-jährigen Holocaust-Überlebenden [9][Marione Ingram] in ihrer
       Geburtsstadt Hamburg wurde abgesagt. Die Liste ließe sich beliebig
       verlängern. Elon Musk dagegen kann auf X so viele antisemitische
       Verschwörungstheorien teilen, wie er will – wenn er nach Berlin kommt,
       steht der Bürgermeister [10][für ein Selfie stramm].
       
       Intellektuelle von Weltrang wie Achile Mbembe, Judith Butler und Naomi
       Klein dagegen machen längst einen Bogen um Deutschland. Die US-Künstlerin
       Laurie Anderson zog sich von einer Folkwang-Gastprofessur in Essen zurück.
       Die diesjährige Biennale für aktuelle Fotografie wurde abgesagt. Die
       Zukunft der documenta ist ungewiss. Und wer möchte noch zur Berlinale
       kommen, wenn er befürchten muss, hinterher [11][als „Antisemit“ beschimpft]
       zu werden? Dem deutschen Feuilleton scheint das egal: Es heizt die von
       Bild-Zeitung und rechten Blogs angefeuerte moralische Panik noch an.
       
       Laut einer Allensbach-Umfrage aus dem vergangenen Jahr glauben nur noch 40
       Prozent der Deutschen, ihre Meinung frei äußern zu können, und gaben an,
       sich deshalb zurückzuhalten. Eine Ausnahme bildeten nur Anhänger der Grünen
       und Akademiker. Möglicherweise gibt es einen Zusammenhang zu den toxischen
       Antisemitismus-Debatten in diesem Land. Sie schüchtern viele Menschen ein.
       
       19 Mar 2024
       
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 (DIR) Daniel Bax
       
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