# taz.de -- Prozess gegen Lina E.: Antifa, weil Staatsversagen
       
       > Die Urteile im Antifa-Ost-Prozess sollen Linke abschrecken. Dabei geht
       > die größere Gefahr von Rechtsextremen aus. Warum Antifaschismus nötiger
       > ist denn je.
       
 (IMG) Bild: Leipzig am 31. Mai: Protest nach Urteilsverkündung gegen Lina E. und drei weiteren Personen
       
       Mit den [1][Urteilen im Antifa-Ost-Prozess gegen Lina E. und drei weitere
       Antifaschisten] hat der Staat ein Exempel statuiert. Verurteilt wurden die
       Angeklagten nicht allein für sechs Körperverletzungen, die sie laut einer
       Indizienkette begangen haben sollen.
       
       Das Urteil gilt darüber hinaus dem antifaschistischen Selbstverständnis,
       Nazis notfalls, etwa wenn der Staat versagt, militant in ihrem
       Handlungsspielraum zu begrenzen. Mit dem Konstrukt der „kriminellen
       Vereinigung“ wird dieser Anspruch als potentiell staatsgefährdend
       eingestuft. Mögliche Nachahmer sollen abgeschreckt werden.
       
       Doch die Sicherheitsbehörden, von der sächsischen Soko Linx bis hin zu
       Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD), unterliegen dabei einem
       entscheidenden Irrtum: Der Staat ist, vor allem im Osten, längst selbst
       gefährdet. Und zwar von rechts. Faeser mahnte am Tag der Urteilsverkündung
       an: Die Radikalisierungs- und Gewaltspirale dürfe sich nicht weiterdrehen.
       
       Es ist das Narrativ, das im Zuge des Prozesses wiederholt zu vernehmen war:
       Rechte und linke Extremisten schaukeln sich auf – „Bis einer stirbt“. So
       stand es in der Welt – in völliger Negation dessen, dass Menschen die ganze
       Zeit sterben: 219 Todesopfer rechter Gewalt seit 1990.
       
       Der Eisenacher Leon Ringl wurde nicht durch die beiden Überfälle, die
       vermeintlich die Gruppe um Lina E. auf ihn verübte, zum gefährlichen
       Nazischläger und Rechtsterroristen. Bis es dazu kam, hat Ringl über Jahre
       hinweg in der thüringischen Kleinstadt daran gearbeitet, eine „national
       befreite Zone“ aufzubauen.
       
       ## Rechtsextreme Gruppe Knockout 51
       
       Mit der militanten Gruppe Knockout 51 ging er auf Menschenjagd und verübte
       Anschläge, mit seiner Kneipe Bull’s Eye bot er der gewaltbereiten Szene
       einen Rückzugs- und Vernetzungsort und mit seinem Versuch, einen deutschen
       Ableger der den Rassenkrieg propagierenden [2][„Atomwaffen Division“
       aufzubauen], wollte er den Schritt zum Terrorismus weitergehen.
       
       Der Staat hat all das lange geschehen lassen und zeigte sich außerstande,
       Menschen anderer Herkunft oder nicht rechter Gesinnung zu schützen. Erst
       dieses Staatsversagen reißt die Lücke, in der sich Antifaschist:innen
       legitimiert sehen, selbst tätig zu werden. Dabei ist nicht von der Hand zu
       weisen: Ein menschenwürdiges Leben für alle, also auch für Nicht-Deutsche
       und Nicht-Weiße, für LGBTQ oder Linke ist nur da möglich, wo das rechte
       Gewaltmonopol gebrochen ist.
       
       Vielfach haben sich Linke in den 1990er Jahren Räume erst erkämpfen müssen,
       die heute allgemeine Wohlfühloasen sind. Antifa heißt für viele Menschen
       vor allem Sicherheit. Es ist das Motiv, angstfreie Räume zu schaffen, die
       man Antifaschist:innen, die Gewalt auch mit Gegengewalt begegnen, zugute
       halten muss.
       
       Strafmildernd aber wirkt sich das hehre Ziel für sie nicht aus – im
       Gegenteil. Der Verfolgungseifer gegen Linke ist groß, gerade in Sachsen, wo
       die CDU seit 1990 Regierungschef und Innenminister stellt. Wer immer sich
       hier öffentlichkeitswirksam gegen rechts positionierte, vom [3][Pfarrer
       Lothar König] und dem [4][Bündnis Dresden Nazifrei] bis hin zu Fußballfans
       von Chemie [5][Leipzig], wurde mit dem Verdacht der Bildung einer
       kriminellen Vereinigung überzogen. Vielen im Freistaat, der in Richtung
       eines rechtsextremen failed state abzurutschen droht, gelten Linke als die
       größte Gefahr.
       
       Zwar werden anders als in den 1990er Jahren inzwischen auch Nazis mitunter
       hart bestraft, so etwa die [6][Gruppe Freital], doch die Beispiele der
       Nachlässigkeit – nicht nur in Sachsen – sind zahlreich. Die
       [7][Aufarbeitung des Nazi-Angriffs auf den linksalternativen Leipziger
       Stadtteil Connewitz wurde ewig verschleppt], die Angreifer kamen glimpflich
       davon. NSU-Helfer André Eminger, Helfer für 10 Morde also, erhielt mit 2,5
       Jahren Haft eine geringere Strafe als der Lina E.-Helfer Jonathan M.
       
       ## Rechte Hegemonie
       
       Und zwei Neonazis, die im thüringischen [8][Fretterode zwei Journalisten
       lebensgefährlich attackierten], kamen mit einem Jahr auf Bewährung und 200
       Sozialstunden davon. Das milde Urteil begründete die Richterin damit, dass
       sie ihre Opfer nicht als Journalisten erkannt, sondern für Linke gehalten
       hatten.
       
       Während viele wegschauen, ist die AfD im Osten zur mittlerweile
       flächendeckend stärksten Kraft aufgestiegen, der Faschist Björn Höcke
       könnte in Thüringen im nächsten Jahr die Wahl gewinnen. In diesem Klima
       breitet sich unter den Kindern der [9][Baseballschlägereltern] vielerorts
       wieder eine rechte Hegemonie aus, in der halbe Klassenverbünde zum
       Hitlergruß ansetzen, wie jüngst der [10][Brandbrief Brandenburger
       Lehrer:innen] zeigte.
       
       Das rechte Gewaltmonopol auf den Straßen vieler vor allem ländlicher
       Regionen geht, anders als in den Nachwendejahren, mit einer realen
       Machtperspektive der extremen Rechten einher, denen von der vermeintlich
       konservativen Mitte der braune Teppich ausgerollt wird.
       
       [11][Organisierte Antifa-Strukturen sind dagegen fundamental in der Krise].
       Der Generation, die sich gegen den rechten Terror der 1990er Jahre stellte,
       und jener, die noch [12][2010/11 Europas größten Naziaufmarsch] in Dresden
       beendete, ist keine ähnlich starke gefolgt. Politisches Engagement auf der
       Linken bildet sich heute anders ab, weniger organisiert, weniger offensiv,
       mehr auf sich selbst bezogen und häufiger damit zufrieden, die eigenen
       linken Großstadtinseln zu verteidigen. Den wenigen verbliebenen militanten
       Antifaschist:innen fehlt damit oftmals die Basis; ihre Aktionen können
       auch als Verzweiflungsakte gelesen werden.
       
       Gleich mit mehreren Verfahren wegen Bildung krimineller Vereinigungen ist
       der Staat den verbliebenen linken Militanten auf den Fersen; der
       Ermittlungsdruck durch die umfangreichen Schnüffelbefugnisse, die mit den
       Verfahren einhergehen, ist so groß wie nie. Radikal linke Strukturen werden
       damit weiter geschwächt – zur Freude der Rechten.
       
       Zugleich ist der gegen Linke so starke Staat nicht in der Lage, der
       rechtsextremen Landnahme effektiv entgegenzutreten. Die Zeiten werden
       wieder härter. Antifaschismus ist notwendiger denn je.
       
       2 Jun 2023
       
       ## LINKS
       
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 (DIR) Erik Peter
       
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